TEIL 4: DIE ERSTEN ERWEITERUNGEN
Wie dreht man eine Schraube auf, die einen Drehmoment von 400 Kilo aufweist? Das ist einer der Fragen, mit denen sich Dieter Zapotoczny befassen muss, als er 1972 seine Arbeit in der Instandhaltung der neuen Kunststofffertigung aufnimmt. 1970 ist mit dem Bau der neuen Werkshalle „K16“ begonnen worden, der Produktionsbetrieb ist nach den Werksferien 1971 angelaufen.
Auch sonst brummt es in der Opel-Pfalz an allen Ecken. Im Oktober ist der 10.000ste Güterwagen mit Automobilteilen aus Kaiserslautern beladen worden. Zur Abfahrt bläst Karl Röver, Präsident der Bundesbahndirektion Saarbrücken, höchstpersönlich in die Pfeife. Außer nach Bochum, Rüsselsheim und Antwerpen werden nun auch Getriebeteile in die USA geliefert, wo sie im Chevrolet zum Einsatz kommen. Insgesamt sind nun 2.500 Mitarbeiter am Produktionsort beschäftigt. An fast allen Samstagen werden Überstunden gemacht.
Abfahrt! Der 10.000. Güterwaggon rollt von Lautern in die Welt – und Bundesbahndirektor Röver bläst höchstpersönlich in die Pfeife.
KEIN PLATZ? VOM OPEL-AREAL DOCH ERST 15 PROZENT BEBAUT
„Opel Kaiserslautern platzt schon aus allen Nähten“, meldet die „Rheinpfalz“. Horst Eberz, der vor drei Jahren Heinz Gensert als Werksdirektor abgelöst hat, versichert der Lokalzeitung: Dagegen wird etwas getan. Die ersten Erweiterungen laufen bereits auf Hochtouren. Schließlich sind erst 15 Prozent des 1,5 Millionen Quadratmeter umfassenden Opel-Areals bebaut.
Mit der Kunststofffertigung ist auch die „erste Version” der Werkshalle K20 entstanden. Auf 3.900 Quadratmetern Produktionsfläche werden Sitzrahmen für Kadett, Manta und den Ascona gefertigt. Für die Fertigung von Hinterrückenrahmen und Hintersitzrahmen stehen zwei Schweißstraßen zur Verfügung. Jede ist etwa 30 Meter lang, für die Bedienung werden nur drei Mitarbeiter benötigt. Sie schaffen vier Zusammenbauten pro Minute. Eine dritte Schweißstraße, etwa 45 Meter lang, fertigt vollautomatisch Vordersitz-Unterzusammenbauten für Manta und Ascona.
Im Vergleich zum „K1“ fast winzig: Das „K16“ entsteht. In ihm findet die neue Kunststofffertigung Platz.
„Die Rohre, aus denen wir in der Frühschicht Sitze zusammenbauten, waren manchmal gerade erst von der Spätschicht zurechtgebogen worden”, erinnert sich Peter Vatter. Der Geiselberger gehört zu den ersten Mitarbeitern, die in der neuen Sitzfertigung ihre Arbeit Betrieb aufnehmen. Schon unmittelbar nach seiner Einstellung 1970 hat er, zunächst noch im K1, Sitze für den Opel GT gefertigt, den Sportflitzer, mit dem das Unternehmen Ende der 60er Jahre für Furore sorgt. Außerdem beginnen die Pfälzer bereits früh, verstärkt Umweltbewusstsein zu entwickeln. Nach der Stadt Kaiserslautern nutzt nunmehr auch Opel Erdgas als Energiequelle. Dazu müssen alle Gasbrenner im Werk, die bislang mit Kokerei- oder Ferngas gearbeitet haben, umgebaut oder ausgewechselt werden.
Und noch ein Neubau: Die erste Version des „K20“. Davor der Büroanbau, in den später unter anderem die Arbeitssicherheit einziehen wird.
UMWELTBEWUSSTSEIN:
SCHON 1971 WIRD RECYCLET
Die neue Halle K 16 umschließt anfangs 2.400 Quadratmeter Fläche, mutet im Schatten des gigantischen „K1“ daher eher winzig an. Entsprechend familiär geht es hier auch zu. Als Dieter Zapotoczny anfängt, arbeiten gerade mal 30 Leute in seinem Bereich. Der Aufenthaltsraum der Instandhalter verfügt über die Abmessungen einer gutbürgerlichen Wohnstube.
Optisch beherrscht wird die Halle von sechs Spritzgießmaschinen, die Kunststoffteile für die Baureihen Diplomat und Admiral, Commodore und Rekord fertigen – Konsolen und Kühlergitter, die noch vor Ort mit Handspritzpistolen lackiert werden. Außerdem entstehen hier vakuum-tiefziehfähige Folien, die auf Armaturentafeln aufgebracht werden. Die Maschinen gehören zum größten und leistungsstärksten, was seinerzeit zu haben ist. Sie verfügen über Schließkräfte von 225 bis 1.200 Tonnen, die dem gewaltigen Druck begegnen müssen, der während des Spritzgießens innerhalb der Anlage herrscht. Dazu kommen die besagten Schrauben mit bis zu 400 Kilo Drehmoment.
Mit einem gewöhnlichen Imbusschlüssel ist da nichts auszurichten, das ist dem gelernten Maschinenschlosser und seinen Kollegen sofort klar. Doch wozu hat man sich einst Physikkenntnisse angeeignet? Wohl auch, damit man sich, wenn‘s drauf ankommt, die Hebelwirkung zunutze machen kann. Also wird der Imbusschlüssel mit einem drei Meter langen Stahlrohr verlängert. Und wenn dann zwei Mann gleichzeitig anpacken, gibt selbst die widerspenstigste Schraube nach. Es wird noch ein paar Jahre dauern, bis hydraulische Schraubenschlüssel diese Dreh-Arbeiten erleichtern werden.
„AB HINNE NAUS“:
DIE PFALZ ERSCHLIESST SICH NEUE DIMENSIONEN
Lernen, immer und überall den richtigen Dreh zu finden, muss auch Heinz Leis. Im Frühjahr 1972 stiefelt der gelernte Handformer zum ersten Mal „hinne naus“. Wo das ist, hat ihm niemand übersetzen müssen, er ist schließlich Pfälzer.
Hinten raus, Richtung Westen, an K1 und K20 vorbei, und dann immer geradeaus: In der neuen Werkshalle „K19“ entsteht gerade das neue, „große“ Presswerk, auf zunächst 7.600 Quadratmetern Produktionsfläche. Im K1 ist bislang lediglich ein „kleines“ Presswerk beheimatet. Hier verarbeiten 120 Mitarbeiter in drei Schichten täglich insgesamt 20 Tonnen Blechteile auf zwei Groß- und fünf Ständerpressen. Das klingt, zugegeben, gar nicht so klein, doch „hinne naus” sind jetzt ganz andere Größenordnungen angesagt: Zwei komplette Pressenstraßen, auf denen pro Tag aus 50 Tonnen Material Karosserie- und Fahrwerksteile für Kadett, Ascona, Rekord, Commodore und Admiral geformt werden sollen – zunächst.
Heinz Leis geht „hinne naus”, um mit seinen Kollegen die aufwändige Produktionstechnik zu installieren. Ein anspruchsvoller, aber auch spannender Job, auf den er sich freut. Den er aber, wie so viele Lauterer Pioniere im Werk, gar nicht im Sinn hatte, als er vor sechs Jahren bei Opel anfing.
Presswerk-Pioniere unter sich: Zu sehen sind unter anderem Heinz Leis (r.), Rudi Leichtfuß (2.v.r.) und Hugo Benz (Mitte, heller Kittel).
DER WEG FÜHRT ÜBERALL HIN –
NUR NICHT IN DIE DREHEREI
In einer Lauterer Gießerei hatte er Ende der 50er Jahre Handformer gelernt, danach aber auch als Lkw-Fahrer gearbeitet. Bei Opel sah er die Chance, wieder auf seinem erlernten Beruf zu arbeiten. In der Dreherei im K1 werden schließlich Handformer eingesetzt. Und Obermeister Rudi Leichtfuß, den alle „de Vatter“ nennen, hat auch in sein berühmtes Notizbuch eingetragen, dass Heinz Leis dort sobald wie möglich eingesetzt werden will. Bislang aber standen immer andere Aufgaben für Heinz Leis an. Er hat an einem Stanzautomaten gearbeitet, Teile für Kupplungen und Gelenkwellen gefertigt, ist Einrichter geworden – und hat seine Sache so gut gemacht, dass sie ihn fragten, ob er nicht Meister werden wolle. Also besuchte er die entsprechenden Lehrgänge. Jetzt ist er Meister und Schichtführer, aber immer noch nicht in der Dreherei angekommen.
In den nächsten Wochen studiert Heinz Leis intensiv die komplexe Technik von Transferpressen, die Installation ihrer „Eisernen Hände“ und der Förderbänder, aber auch alle anderen Details. Auch wenn sie so wahnsinnig klobig wirken – „Pressen sind feinfühlig wie junge Mädchen“, erkennt er. Daher wird er sich später immer wieder über Vorurteile ärgern – „von wegen, Presswerk-Mitarbeiter müssten nur stark sein und große Hände haben. So ein Quatsch. Die Leute haben gar keine Ahnung, wie viel Fingerspitzengefühl im Umgang mit den Anlagen, noch mehr aber für die Handhabung des zu formenden und geformten Materials benötigt wird.“
MADE IN LAUTERN:
SENSIBILITÄT FÜR AUSSENHAUTTEILE
Nachdem die Anlagen betriebsbereit sind, erhält Heinz Leis den Auftrag, das Produktionsteam zusammenzustellen. Seine erste Wahl fällt auf Alois König, kurz darauf begleitet Heinz Fremgen die beiden „hinne naus“. Das erste Teil, das sie auf den neuen Anlagen formen, ist eine Stoffhalteschiene für die Sitzfertigung.
Schnell zeigt sich: Das „große Presswerk“ erweitert die produktionstechnischen Möglichkeiten der Opel-Pfalz ungemein. Bis jetzt haben es die Pfälzer vorwiegend mit kleinen Fahrzeugteilen zu tun gehabt, jetzt entstehen aus tonnenschweren „Coils” von 1,50 Meter Breite großflächige Außenhautteile – „und die müssen glatt sein wie Kinderpopos”, so Heinz Leis. Allein, auf den geformten Teilen winzige Unwuchten zu entdecken, die Nacharbeit erforderlich machen, ist eine Kunst für sich, die man sich mit Erfahrung allein nicht aneignen kann. „Auch wenn man dabei einen speziellen Fühlhandschuh trägt, der zusätzliche Sensibilität schafft – die nötige Feinfühligkeit für diese Aufgabe besitzen nur ganz wenige.“
FROHE KUNDE ZU WEIHNACHTEN:
ES KOMMEN NOCH SECHS WEITERE PRESSENSTRASSEN
Im Juni 1972 werden in Lautern 2.600 Beschäftigte gezählt. Kurz vor Weihnachten verkündet das Opel-Management: Das Unternehmen will erneut in seine Werke investieren. In der Pfalz sind neue Fabrikgebäude für die Produktion und Montage von Motoren und Hinterachsen im Gespräch – und weitere sechs Pressenstraßen.
Bald darauf wird Obermeister Rudi Leichtfuß im „großen Presswerk“ der Vorgesetzte von Heinz Leis. Der spricht in hin und wieder mal an: Was denn aus der Notiz geworden sei, die er einst in sein Büchlein schrieb – dass der gelernte Handformer bei nächster Gelegenheit in die Dreherei versetzt werden soll? Darauf werden beide nur noch lächeln. Heinz Leis wird 37 Jahre lang mit Leib und Seele „Opelaner“ sein, etliche Aufgaben wahrnehmen, unter anderem im Betriebsrat als Ansprechpartner für Vorgesetzte fungieren – aber nie in der Dreherei arbeiten.
Was damals im Keller geschah
von Gerd Reuter
Gerd Reuter steuerte als Werkslogistiker 40 Jahre den Materialfluss am Standort Kaiserslautern –zuletzt als Leiter des Bereichs. Aus den Anfangsjahren ist ihm diese Episode in Erinnerung geblieben:
„In 40 Jahren in der Lauterer Werkslogistik war es stets meine Aufgabe, Material zu beschaffen und weiterzuleiten – das ging auch schon mal über rein dienstliche Angelegenheiten hinaus. Ich erinnere mich noch an eine Geburtstagsfeier von Hans Gensert in den Pioniertagen des Produktionsortes.
Die Feier in seinem Haus auf dem Lauterer Bännjerrück war schon im vollem Gange, als ausgerechnet meine Frau ihn fragte, wo er denn die schönen Tomatenpflanzen habe, die ihm der damalige Opel-Gesamtwerksleiter Gunnart Winstrom ein paar Wochen zuvor im Werk überreicht hatte. Damit hatte sie unseren Chef ungewollt ganz schön in Verlegenheit gebracht: Er hatte das Präsent schlicht und ergreifend im Werk liegenlassen – und vergessen.
Weil er nicht noch öfter danach gefragt werden wollte, nahm mich Hans Gensert beiseite und bat mich, die Tomatenpflanzen so schnell wie möglich herbeizuschaffen. Als Mitarbeiter der damaligen Material- und Produktionskontrolle (MPK) war „Beschaffung” schließlich mein Job. Also raste ich ins Werk und machte mich auf Gemüse-Suche.
Ich war auch erfolgreich: Schneller allerdings, als ich wollte. Denn als ich die Kellertreppe im Verwaltungsgebäude K2 hinunterstieg, stolperte ich direkt über die Tomatenkiste. Ich konnte mich zwar auf den Beinen halten, doch die Pflanzen purzelten die Treppen hinunter und verteilten sich erst einmal im Keller.
Einmal Logistiker, immer Logistiker: Gerd Reuter macht auch im Ruhestand noch Pläne, mischt unter anderem alljährlich bei den „Opel Classics“ in der Lauterer City mit.
Als ich sie wieder zusammenklaubte, stellte ich fest, dass einige durchgebrochen waren. Da ich unserem Chef und seinen Geburtstagsgästen diesen Anblick unmöglich zumuten konnte, suchte ich mir eine Büroklammer, bog sie mir zurecht und steckte die Einzelteile aufeinander. Dann brachte ich die Kiste wie verabredet zur Feier, und der Chef war zufrieden – fürs Erste.
Ein paar Wochen später erzählte er mir dann, dass aus den Tomatenpflanzen wohl nichts Vernünftiges werde. Eine hätte er schon wegwerfen müssen und auch der Rest gedeihe nicht recht. Ich zuckte bedauernd die Achseln und machte ein unschuldiges Gesicht.
Ich habe es auch später nie übers Herz gebracht, ihm von dem Kellersturz zu erzählen, von dem sich seine Pflanzen nicht mehr erholt hatten. Dies ist also ein spätes Geständnis, aber ich denke, mittlerweile dürfte die Tat verjährt sein.“
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