Date: 11-10-2016
Source: Die Welt
USA beenden Kooperation mit Russland
Quelle: Die Welt
Die Hoffnungen auf eine Deeskalation im Syrien-Konflikt sind vorerst geplatzt. Nach zwei Wochen heftiger Kämpfe um Aleppo erklärten die USA ihre Gespräche mit Russland über eine Feuerpause für beendet.
Russland sucht die Konfrontation mit den USA. Sogar Gedankenspiele über einen neuen Rüstungswettlauf der Atommächte kursieren wieder. Eine Eiszeit kündigt sich an. An wessen Seite steht Deutschland?
Die Nato verkündet die Einsatzbereitschaft des 2010 von ihren Staats- und Regierungschefs beschlossenen Raketenabwehrsystems über Europa. Nach der ersten Bodenstation in Rumänien erreicht nun auch der zweite Stützpunkt in Polen „Full Operational Capability“. Der land- und seegestützte Schutzschild gegen Bedrohungen aus der Luft steht.
Russlands Präsident Wladimir Putin erklärt umgehend, der Nato-Raketenschirm sei gegen sein Land gerichtet und gefährde die „höchsten Interessen“ Moskaus. Schließlich könnten die USA von den Raketenabwehrbasen auch nukleare Marschflugkörper abfeuern. Putin reagiert mit dem Austritt aus dem 1987 von Ronald Reagan und Michael Gorbatschow geschlossenen Vertrag über die Abrüstung nuklearer Mittelstreckenraketen (Intermediate Range Nuclear Forces, INF) und kündigt an, auf den Schiffen der baltischen Flotte, in Kaliningrad und den Oblasten westlich des Urals neue Atomraketen zu stationieren.
Was sich wie ein überkommenes Szenario aus den Zeiten des Kalten Krieges liest, ist brandaktuell. Die düstere Schilderung stammt aus einer im Juli erschienenen Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die sich mit denkbaren Entwicklungen in der russischen Außenpolitik befasst. Nachdem europäische und deutsche Entscheidungsträger von Ereignissen wie der Annexion der Krim oder Putins militärischer Intervention in Syrien überrascht worden waren, will der Berliner Thinktank die Politik nun besser auf das vermeintlich Unberechenbare vorbereiten.
Alles nur Kaffeesatzleserei?
Russlands Rückzug aus der nuklearen Rüstungskontrolle ist ein Szenario, das tatsächlich existierende Entwicklungen auf der Basis wissenschaftlicher Analyse weiterdenkt. Russlands Staatspropaganda registrierte die Studie umgehend und geißelte sie als „Kaffeesatzleserei im intellektuellen Gewand“. In dieser Woche aber lieferte Präsident Putin persönlich handfeste Belege, dass er gewillt ist, Russlands Status als Atommacht politisch zu instrumentalisieren.
Am Montag verkündete er, einen mit den USA geschlossenen Vertrag über die Entsorgung waffenfähigen Plutoniums auf Eis zu legen. Darin hatten beide Länder festgelegt, jeweils 34 Tonnen atomwaffenfähiges Plutonium – das ist Material für rund 17.000 Nuklearsprengköpfe – zu entsorgen. Putin begründete seine Entscheidung mit „unfreundlichen Handlungen“ der Amerikaner und verlangte von den USA, die im Zuge der Ukraine-Krise verhängten Sanktionen aufzuheben, Entschädigungen zu zahlen und die US-Militärpräsenz in Europa zu reduzieren. Folgt man darüber hinaus Informationen aus estnischen Regierungskreisen, soll Moskau derzeit tatsächlich dabei sein, ballistische Boden-Boden-Kurzstreckenraketen in Kaliningrad zu stationieren.
Noch hat die Nato die Angaben nicht bestätigt, nach Putins Drohung aber ist die Nachricht durchaus möglich. Neu hingegen ist der Tabubruch, die Nuklearabkommen mit politischen Forderungen zu verknüpfen. Seit dem Beginn der Ukraine-Krise schert sich Putin aber nicht mehr um Rücksichtnahmen, die seit Ende des Kalten Krieges galten. Immer wieder erinnert er daran, dass Russland Atommacht sei – etwa, als er 2015 beiläufig erwähnte, während der Besetzung der Krim habe er erwogen, die strategischen Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft zu versetzen. Sein Chefpropagandist Dimitri Kisseljow prahlte im Staatsfernsehen gar damit, dass Russland das einzige Land sei, das die Vereinigten Staaten in atomare Asche verwandeln könne.
Die Zeichen stehen auf Konfrontation. Dass Putin ernsthaft mit dem Gedanken spielt, Atomwaffen einzusetzen, scheint unwahrscheinlich. Aber das nukleare Säbelrasseln zwingt den Westen, sich mit der Option ernsthaft auseinanderzusetzen. Oliver Meier, stellvertretender Forschungsgruppenleiter Sicherheitspolitik bei der SWP und Autor des düsteren Nuklearszenarios, schreibt, dass Russland sein Atomprogramm auch als ein Instrument sieht, einen Keil in die Nato zu treiben. Denn die ist sich in ihrer Haltung gegenüber Moskau ebenso wenig einig wie die EU.
Forderung nach „mehr Härte gegenüber Moskau“
Anschaulich zu besichtigen ist das in Deutschland. In Berlin ziehen sich die Auseinandersetzungen über die richtige Strategie gegen Putin sogar quer durch die Regierungsparteien. Dabei geht es noch nicht um eine drohende nukleare Eskalation, sondern um die Kriege in der Ukraine und in Syrien. Putins Politik laufe zunehmend auf einen neuen Kalten Krieg hinaus, sagt der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, Elmar Brok (CDU): „Russlands Präsident Putin entwickelt sich immer mehr zu einem Diktator und betreibt pure Machtpolitik, die für den Tod Tausender unschuldiger Menschen in Syrien und in der Ukraine verantwortlich ist.“ Das müsse Konsequenzen haben, in der Nato wie der EU.
Brok fordert „deutlich mehr Härte gegenüber Moskau“, indem die bereits bestehenden EU-Wirtschaftssanktionen im Winter nicht nur um ein Jahr verlängert, sondern auch ausgeweitet werden: „Der Westen sollte Russland künftig keine Technologien mehr liefern, die zur Herstellung von Waffen oder zur Weiterentwicklung von Computersoftware genutzt werden kann.“
Am Freitag signalisierte der Sprecher der Bundesregierung, man habe angesichts der andauernden Kriegsgräuel in Syrien „Verständnis“ für derlei Forderungen. Allerdings zweifelt mancher in der CDU, dass diese Einigkeit der Regierung angesichts des aufziehenden Bundestagswahlkampfes noch lange Bestand hat. Denn Demoskopen machen eine gewisse Sehnsucht vieler Deutscher nach guten Beziehungen zu Moskau aus. „Ich sehe mit Sorge, dass sich immer größere Teile der SPD für eine Äquidistanz zu Moskau und Washington aussprechen“, sagt der christdemokratische Außenpolitiker Roderich Kiesewetter. CDU-Generalsekretär Peter Tauber beklagt, die SPD betätige sich „leider immer häufiger als antiamerikanischer Kronzeuge – ob bei den Debatten über den Freihandel oder die Rolle der Nato“.
CSU denkt anders als die CDU
Tauber macht einen wachsenden Antiamerikanismus in der Gesellschaft aus, während bei Russlands Gräueltaten geschwiegen und weggeschaut werde. Nicht aber in seiner Partei, sagt er: „Wir als CDU lassen keinen Zweifel: Die Einbettung in die westliche Wertegemeinschaft ist und bleibt eine entscheidende Grundkoordinate Deutschlands.“
Merkels junger General formuliert nicht zufällig „wir als CDU“. Denn schon in der Schwesterpartei sieht man das anders. Im Juni traf sich das CSU-Präsidium mit der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft und verabschiedete eine gemeinsame Erklärung mit dem Kernsatz: „Sanktionen dürfen kein Dauerzustand sein. Blockdenken ist nicht mehr zeitgemäß.“ In München kann man erfahren, die Wirtschaft des Freistaats habe Ministerpräsident Horst Seehofer geradezu bedrängt, zu Wladimir Putin zu reisen, um persönlich auf gut Wetter zu machen. Die Kanzlerin sei bei dem Thema ignorant.
Im Kanzleramt wird der Druck der Wirtschaft für eine Lockerung der Sanktionen schlicht geleugnet. Die großen Industrie- und Wirtschaftsverbände hätten sich klar zu einem Primat der Politik bekannt, heißt es. Bei einem Unternehmerkongress in dieser Woche in Berlin allerdings sprach Wolfgang Büchele, Vorsitzender des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, von den Sanktionen als „Schatten, der über uns hängt“. Bezeichnend war, wen Wladimir Grinin, Moskaus Botschafter in Berlin, auf der Veranstaltung lobend erwähnte: den Landwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU), Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Vizekanzler Sigmar Gabriel (beide SPD).
Tatsächlich schwanken die Sozialdemokraten zwischen einer kritischen Haltung gegenüber Putin und einer erstaunlichen Nachsicht mit dem Kreml. Gewiss, es greift zu kurz, wenn Steinmeier als „Russland-Versteher“ gescholten wird. Verteidigt der Außenminister nicht die EU-Sanktionen gegen Russland? Gleichzeitig aber gibt es einen anderen Steinmeier. Er appellierte kurz vor dem Nato-Gipfel in Warschau: „Was wir jetzt nicht tun sollten, ist durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul die Lage weiter anheizen.“ „Säbelrasseln und Kriegsgeheul“ – derlei plakative Begriffe passen so gar nicht zu dem eigentlich so vorsichtig abwägenden Sprachstil des Chef-Diplomaten.
Amerika-Kritik kommt in der SPD meist gut an
Selbst im Auswärtigen Amt zeigte man sich irritiert. Konnte man den Ausfall noch mit Ärger über manche Nato-Hardliner erklären, verlor Steinmeier bei einer Rede im August an der Universität in Jekaterinburg die Orientierung zwischen Dialogbereitschaft und Träumerei. Im Angesicht von Moskaus Bombenhagel auf Syrien schlug Steinmeier eine deutsch-russische Wiederaufbauinitiative vor.
Waren das schon die Vorboten des Wahlkampfes? Amerika-Kritik kommt in der SPD meistens gut an – und Russland-Nachsicht auch. Steinmeier jedenfalls weckt alte Zweifel an der Bündnistreue der SPD. Stehen die Sozialdemokraten nicht doch lieber an der Seite Moskaus als an der Washingtons? Wer das behauptet, verkennt, dass ausgerechnet Herbert Wehner – der einst in Moskau gelebt hatte – seine SPD mit einer außenpolitischen Grundsatzrede am 30.Juni 1960 auf die Westbindung festgelegt hatte. Damit war die neutralistische Position, geprägt von Kurt Schumacher, passé. Niemand in der SPD zweifelt heute die Verankerung Berlins in Nato und EU an. Doch sind Sozialdemokraten immer wieder verführt, über dritte Staaten hinweg, gemeinsame Sache mit Moskau zu machen.
Egon Bahr, der jahrzehntelang mit den Sowjets kungelte, gilt bis heute als Säulenheiliger der Partei. Die höchst umstrittene zweite Phase der Entspannungspolitik gegenüber dem Ostblock, als es kaum mehr um „Wandel“, aber umso mehr um „Annäherung“ ging, hat die SPD bis heute nicht aufgearbeitet. Damals hatten in der SPD gute Beziehungen (und Duz-Freundschaften) mit führenden Kommunisten in Ost-Berlin und Moskau mehr gezählt als Menschenrechte.
Putin als „Schirmherr reaktionärer Kräfte in aller Welt“
Diese Traditionslinie existiert weiter. Offensichtlich ist das beim früheren brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck, heute Vorstandschef des Deutsch-Russischen Forums, einer Moskau-Lobby. Aber auch der SPD-Vorsitzende Gabriel fährt zuweilen einen Kuschel-Kurs gegenüber dem Kreml. Fasziniert beobachtete Gabriel im Sommer, wie sein Parteifreund Erwin Sellering, Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, im Landtagswahlkampf russlandfreundliche Töne anschlug, für den Abbau der Sanktionen warb – und damit seine Wahl gewann. Wäre das ein Modell für den Bundestagswahlkampf 2017? Sellering wirbt dafür. Und Gabriel ist Taktiker genug, um zumindest darüber zu sinnieren.
Dezidiert Moskau-kritische Sozialdemokraten, wie etwa der Historiker Heinrich August Winkler, befinden sich in der Partei längst in der Minderheit. Winkler hatte schon vor der Annexion der Krim „Putins konservativen Antimodernismus“ kritisiert, ihn als konsequenten Gegner westlicher Werte und der Aufklärung beschrieben. „Der Herrscher Russlands als Schirmherr der reaktionären Kräfte in Europa, ja in der ganzen Welt“, spottete Winkler 2014: „Die Zaren von Alexander I. bis Nikolaus II. hätten ihre Freude an dieser Metamorphose eines ehemaligen kommunistischen Funktionärs gehabt.“
Damals konnte Winkler noch nicht ahnen, dass Pöbler am Tag der Deutschen Einheit in Dresden rufen würden: „Merkel nach Sibirien, Putin nach Berlin“. Er konnte nicht wissen, dass nach aktuellen Umfragen ein breiter anti-transatlantischer Block aus der traditionell moskautreuen Linken und der AfD im nächsten Bundestag sitzen wird. Umso mehr wird es für Deutschlands künftige Haltung gegenüber Russland auf Winklers Partei ankommen, die SPD.
Mitarbeit: Robin Alexander, Julia Smirnova, Christoph Schiltz und Daniel Friedrich Sturm.