2015-09-26

Bernd Lüthje, Deutsche Wirtschafts Nachrichten  |  Veröffentlicht: 26.09.15 09:57 Uhr | 

Die EZB gerät in die Defensive: Mit den niedrigen Zinsen stützt sie seit Jahren insolvente Staaten und enteignet die Sparer. Doch diese wehren sich mit einer stillen Revolution. Sie horten Bargeld, investieren in langfristige Anlagen und machen einen Bogen um die Staatsanleihen. Damit trocknet die Finanzierung der Schulden-Staaten aus. Die EZB wird schnell reagieren: Schon im kommenden Jahr ist eine Erhöhung der Zinsen auf sechs Prozent denkbar.

Heribert Müller aus Krefeld ist ein in Deutschland bekannter Vertreter technischer Finanzanalysen und –prognosen. Er sagt, die Zinsen werden kräftig steigen. Die Europäische Zentralbank in Frankfurt am Main hält an ihrer Meinung fest, die Zinsen im Euroraum würden noch lange niedrig bleiben. Welcher Voraussage kann man Glauben schenken?

Heribert Müller aus Krefeld hat am 9. September 2015 gesagt: „Die langfristigen Zinsen befinden sich an einem Wendepunkt der Geschichte.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) Der seit diesem Frühjahr langsam ansteigende Zins für zehnjährige Bundesanleihen sei nicht nur eine Trendwende, sondern ein „mehrjähriger Teil historischer Zinszyklen“. Müller befindet sich mit seinen Erkenntnissen in illustrer Gesellschaft. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel (BIZ) tritt seit einigen Jahren dafür ein, von der am Tagesgeschäft orientierten Geldpolitik wegzukommen und sich an den länger laufenden Finanzzyklen zu orientieren. Ihre Gesellschafter, die global wichtigen Zentral- und Notenbanken, haben jedoch bis heute nicht reagiert. Auch das Echo in der Wissenschaft ist verhalten.

Heute erinnert der selbständige Unternehmer Heribert Müller an 1981. Damals seien die Zinsen schon 34 Jahre lang gestiegen und die Inflationsmentalität sei stark ausgeprägt gewesen. Eine Zinswende sei nicht vorstellbar gewesen. Das Gegenteil folgte, nämlich ein 34 Jahre währender Rückgang der Zinsen. Für die Antwort auf die Frage, welcher Voraussage zu trauen ist, der des Krefelders oder der der EZB, ist es sinnvoll, die Seiten zu wechseln. Somit kommt man von der in den Medien dominierenden EZB-Sicht hin zu der der Anleger und Sparer, also der Bürger.

Denn die Zentralbanken, insbesondere die EZB wie ihr Vorbild, die US-Fed, entscheiden über die Bürger hinweg. Somit kommen sie der Politik entgegen. Diese benötigt die niedrigen Zinsen und die indirekte Staatsfinanzierung über EZB-Anleihekäufe. Nur so können die irrsinnigen Steigerungen in der Staatsverschuldung bewältigt und der Zwang zu Strukturreformen in den einzelnen Euro-Staaten verringert werden. Italien, Frankreich und Griechenland sind gute Kunden der EZB, aber auch die deutsche Politik ist gerne dabei, in Berlin wie in allen Bundesländern. Die Bürger haben alle EZB-Entscheidungen persönlich aufzufangen, vor allem den seit Jahren von den Frankfurtern gewollten Zinsabsturz.

Die Anleger beobachten die EZB und die Politik breiter und tiefgehender, als beiden Bereichen bekannt und vor allem lieb sein dürfte. Denn sie haben heute genau zu disponieren, um langfristig überleben zu können. Die Nachkriegsgeschichte prägt bis heute die deutsche Innensicht und die Meinung vieler Deutscher darüber, was die EZB zu tun hätte. Sie soll so wie die Bundesbank arbeiten. Am Vierteljahrhunderttag der Wiedervereinigung ist unvergessen, welche einigende Kraft die Bundesbank mit der starken Deutschen Mark 1989 und 1990 gewesen ist.

Die EZB-Aufgabe aus deutscher Bürgersicht soll allein die sein, die Preise und damit den Geldwert stabil halten. So steht es im EU-Vertragswerk, zuletzt in Lissabon 2007 bestätigt. Darauf haben sich die deutschen Bürger verlassen, als der Euro eingeführt wurde. Immer wieder machen Unternehmen, Parteien, Regierungen, Markt- und Meinungsforscher, Medien, Lobbyisten, Gewerkschaften, Kirchen den Fehler, die Bürger zu unterschätzen. Diese lesen, hören und sehen genau. Sie ziehen sich zurück, wenn ihnen etwas angedient wird, das keine reale Grundlage vorweist. „Niedrige Zinsen sind gut gegen Krisen“ oder „Zwei Prozent Inflation helfen dem Wachstum“ werden als Floskeln nicht ernst genommen. Schlagwort-Politik perlt ab. Die Bürger haben in der letzten Zeit vieles registrieren müssen. Etwa: Die EZB betreibt eine Niedrigzinspolitik. Wieder und wieder werden Erklärungen abgegeben, die ähnlich klingen, aber sich graduell verändern. Der niedrige Zins dient nicht mehr der Krisenbekämpfung, sondern schmiert die ausufernde Staatsverschuldung. Die Bürger spüren, wie die EZB über ihre Anleihekäufe Teilmärkte austrocknet und wackelige Staaten und deren Banken finanziert, um sie vor der Insolvenz zu retten.

Die Anleger beobachten genau, wie die Politik die EZB anhält, die Staatsfinanzierung nicht nur sicherzustellen, sondern auch billigst zu halten. 15-stündige Rettungssitzungen in Brüssel werden vom Anleger ganz anders aufgenommen, als die Retter glauben. Die Bürger wissen, dass sie zu bezahlen haben. So wurde der Fall Griechenland gleich realistisch umgedeutet in die eigene langfristige Belastung. Im Euroraum wird beobachtet, wie die Politik der EZB Aufträge gibt, die in Frankfurt am Main bereitwillig verwirklicht werden.

Ein Beispiel: Die deutsche Politik hat nicht einmal im Bundestag diskutiert, ob die Kapitalmarktunion das Rückgrat der Finanzierungen für Mittelstand und Privatleute, nämlich Genossenschaftsbanken und Sparkassen zerstört. „Die Kapitalmarktunion“ diene „vor allem der dringend benötigten Ausdehnung der Finanzierung von Unternehmen, vor allem auch kleiner und mittlerer,“ meinte vor kurzem der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für das Auswärtige, Norbert Röttgen. Die Dringlichkeit belegte er nicht. Das ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München stellte das Gegenteil fest. Die gewerbliche Wirtschaft habe in Deutschland eine historisch tiefe Kredithürde. Die Genossenschaftsbanken und Sparkassen bestätigen diese Aussage schon seit langem.

Hauptproblem für sie ist die Diskriminierung gewerblicher und privater Kunden durch das Basel-Regime, das allein den Staatskredit fördert. Eines seiner wichtigsten Träger ist die EZB. Die Bürger bemerken, dass Deutschland es heute im Gegensatz zu 1981 und zu den Zeiten der Bundesbank mit einer allein politisch gesteuerten und getriebenen EZB zu tun hat. Jeder Internet-Surfer, Fernseher und Zeitungsleser weiß, dass die EZB-Führungsschicht ihre unterschiedlichen nationalen Aufträge in eigenen Stellungnahmen als Zentralbank-Meinung bekanntgibt. Die EZB ist Diener vor allem der Regierungen, die im Euroraum lautstark auftreten. Politisch unabhängig, wie es die Bundesbank gewesen war, ist sie nicht. Das belastet die Deutschen.

Nachdem sich der Dampf um die Bankenkrise zu verziehen und über Griechenland eine sogenannte Eurokrise begann, blieb das Gros der Marktteilnehmer, eben die Anleger, in der realen Wirtschaft und handelte nüchtern. Ergebnis: Die Bürger verhielten sich streng marktorientiert und nutzten die niedrigen Zinsen zur Schuldentilgung sowie zum Erwerb von Häusern und werthaltigen Aktien. Die Sparneigung blieb hoch. Die Versicherungen und Vermögensfonds agierten wie immer langfristig ausgerichtet. Dieser Sanierungs- und -anpassungsprozeß ist seit einigen Monaten abgeschlossen.

Deshalb suchen die Vermögenshalter, wenn überhaupt, Staatspapiere, nur noch auf zwei Jahre. Solche deutschen Titel sind überzeichnet. Auch die zinsgesicherten Papiere mit Inflationsindexierung werden in Deutschland von den Bürgern gekauft. Ansonsten verhalten sie sich typisch für die Phase, die einem starken Zinsanstieg vorhergeht. Sie wollen noch einmal richtig leben, im Augenblick wird richtig teuer konsumiert. Erspartes wird in hochwertigen Gebrauchsgütern angelegt. Große Kreuzfahrten sind der Renner. Damit verhalten sich die Deutschen rational, weil sie mit steigenden Zinsen rechnen. Den Reden der EZB-Vertreter wird nicht geglaubt.

Jeder Bürger weiß, dass die hohe Staatsverschuldung – auch die deutsche – nur auf drei Wegen zu lösen sein wird: Durch massive Tilgung, von der auch jeder weiß, dass sie nicht stattfinden wird. Durch Haushalte, über die die Staatsschulden langsam abgebaut werden. Auch dieses wird nicht stattfinden. Durch finanzielle Repression, also durch Enteignung über die vom Staat zugelassene Inflation. Das könnte erklären, warum die EZB so sehr an einer Inflation interessiert ist, die sie über niedrige Zinsen herbeiführen will. Derjenige, der die Repression als einzige Möglichkeit ansieht, wird sich vorsichtig verhalten.

Dazu gehört, keine Wertpapiere auf Kredit zu kaufen. Wenn dann noch in der Öffentlichkeit wie jetzt in zunehmender Zahl Professoren, IT-Manager, Politiker und Zentralbanker verlangen, das Bargeld abzuschaffen, schätzt der Bürger genau ein, was ihm droht. Seine Antwort ist wiederum rational. Er hortet Geldscheine. In der letzten Griechenlandkrise hat jeder miterleben können, dass die Menschen ordentlich weiterexistieren konnten, die frühzeitig große Mengen Bargeld zu sich nach Hause gebracht hatten.

Andrew Haldane, führender Intellektueller der Bank von England, forderte jüngst auch, das Bargeld abzuschaffen oder das Inflationsziel auf 4 Prozent  anzuheben. Seine Begründung entspricht aber nicht der, die in Deutschland herumgereicht wird, nämlich Geldwäsche und Schattenwirtschaft zu unterbinden. Als ob jeder deutsche Supermarktkunde ein Geldwäscher wäre! Eine solche öffentliche Darstellung bezieht der Bürger auf sich und wertet sie – richtigerweise – als Beleidigung. So etwas unterstellt Haldane nicht. Vielmehr meint er, der Bargeldverkehr würde die Wachstumswirkung niedriger Zinsen unterlaufen.

Vier Prozent Inflation pro Jahr bedeuteten, die Menschen würden, weil vom Staat über seine Zentralbank gewollt, in 20 Jahren auf ihr Erspartes verzichten. Das ist kein „Glasperlenspiel“, sondern die Deutschen nehmen es als das, was Haldane ausdrücken wollte, als Eingriff in ihre Vermögenssouveränität. Die bisherige Aufzählung der geldpolitischen Entscheidungen und Vorstellungen aus der EZB und aus anderen EU-Ländern mit tatkräftiger Beteiligung der EU-Kommission ist nicht umfassend. Aber sie reicht aus, um eine Verhaltensänderung zu erklären. Sie erfolgt im Stillen. Nur sensible Händler und Bankleute merken sie und beginnen, sich deshalb an den Märkten neu zu orientieren. Sie wissen, wenn die Anleger sich zurückhalten, bedarf es eines neuen Preisniveaus, um sie wieder zum Kaufen und Anlegen zu gewinnen. Beim derzeitigen Zins verliert der Bürger. Nur der Staat gewinnt für seine Schuldenschleuderei. Solange der Bürger weiß, dass Bundesregierung und Bundestag dagegen nichts unternehmen, hält er sein Geld zurück. Er nimmt Abstand vom Staat und seiner Finanzierung über den Markt.

Die EZB kann kaum noch zusätzliche Liquidität schaffen, da sie die Anleihemärkte weitgehend leergekauft hat. Auch ihre Langfristkredite, um das Wachstum anzukurbeln (Targeted Longer-Term Refinancing Operations, TLTRO) ziehen nur noch wenig Interesse auf sich. Die Zurückhaltung kann dafür sprechen, dass die Banken abwarten, wie sich der Zins entwickelt. Eine direkte Staatsfinanzierung ist der EZB verboten. Der Anleger sieht, wie sie das Verbot umgeht, indem sie Staatsanleihen aus dem Besitz der Banken aufkauft. Er glaubt ihren Erklärungen nicht, sich an Grundsätze und an ein Mandat zu halten. Er muss davon ausgehen, dass die EZB die Schulden der Euroländer bald direkt finanziert, wie in einzelnen Ländern früher schon geschehen. Er sieht, dass das Modell Bundesbank untergegangen ist und stattdessen das alte Modell Banca d´Italia wieder zum Leben erweckt werden wird. Dazu wird den oberen Zentralbankern schon etwas einfallen, ihr „Mandat“ zu erweitern. Manche Länder warten nur auf diese Entscheidung. Auch das wissen alle.

Die schon von der EZB vorgenommene indirekte Staatsfinanzierung über Anleihekäufe hat die Kraft zur allgemeinen Inflation in sich. Das EZB-Ankaufsprogramm sei ein Erfolg, sagt Chefvolkswirt Peter Praet, „Es zeigt bereits Wirkung, etwa bei den Inflationserwartungen“, die sich „erholt“ hätten (Neue Zürcher Zeitung, 22. September 2015). Es bleibt ein Geheimnis des EZB-Volkswirtes, von einer Erholung der Inflationserwartungen zu sprechen.

Inflation ist per se schlecht, weil sie die sparsamen, an die Zukunft denkenden Menschen kalt enteignet. Aber Erwartungen sind der EZB nicht genug, deshalb soll das Anleihekaufprogramm auf eine Billion Euro ausgeweitet werden. Dann werden, so muss man folgern, ihre Erwartungen sich in Inflationsraten verwandeln. Andrew Haldane von der Bank von England möchte vier Prozent per anno. Im Gegensatz zu Herrn Praet und den anderen in der EZB-Führungsriege ist der Brite jedenfalls ehrlich. Die Bürger reagieren auf die Nachrichten und auf ihre persönlichen Erwartungen an den Markt rational. Sie konstatieren, dass nicht nur sie, sondern auch ihre Mitbürger sich vom Markt zurückziehen. Es ist ein Angebotsmarkt entstanden. Ein solcher kann nur mit höheren Preisen wieder ausgeglichen werden. Die Zinsen müssen anziehen, um wieder Anreize so zum Kaufen von Anleihen zu schaffen.

Das rationale Abwarten der Bürger wird höhere Zinsen auslösen, ohne die der Staat keinen Kredit mehr bekommen wird. Seine ausstehenden Papiere werden in dem Augenblick wertlos. Er muss nachbessern oder noch mehr Ramsch drucken. Dann kombinieren sich steigende Zinsen mit Papieren, deren Wert abnimmt. Die Zentralbanken haben nichts zu sagen. Sie können nur reagieren. Das einzige Mittel, was sie noch haben, ist der Zins. Liquidität aus dem Nichts haben sie in einer Größenordnung geschaffen, die wegen ihrer hohen Deckung mit Staatspapieren – die EZB hat über 50 Prozent ihrer notenbankfähigen Sicherheiten in Schuldverschreibungen von Zentral- und Regionalregierungen – kaum noch eigenständigen Wert hat.

Wem sei zu vertrauen, war die Eingangsfrage, Heribert Müller aus Krefeld oder der EZB aus Frankfurt am Main? Die Antwort lautet eindeutig: Dem Krefelder. Die Zinsen steigen schon. Sie werden in den kommenden Jahren auf ein Niveau steigen, das heute nicht vorstellbar sei, meint Heribert Müller. Doch, wer 1981 miterlebt hat, weiß, wie schnell Zinsen steigen müssen, um wieder ein Gleichgewicht an den Finanzmärkten zwischen Angebot und Nachfrage zu erreichen.

Schreckte vor 34 Jahren die hohe Inflation die Anleiheemittenten ab, so schreckt heute die Staatsverschuldung die Sparer. Bei Zinsen mit einer Null vor dem Komma erhalten sie gegen die finanzielle Repression der Regierungen und ihrer EZB keinen Zinsausgleich mehr. Da Staatsfinanzierung und Marktverhalten nicht mehr im Gleichklang sind, werden die Zinsen schnell erhöht werden müssen. Die Staaten brauchen jeden Cent. Sie bezahlen aus neuen Krediten schon die Tagesausgaben. Mitte 2016 wird der EZB-Leitzins sechs Prozent betragen müssen, um die Bürger wieder in die Staatsanleihemärkte zu locken. Darunter wird er uninteressant sein, jedenfalls in Deutschland.

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In seinem neuen Buch zeigt der ehemalige Banker Bernd Lüthje wohin es führt, wenn das Zentralbanken-System der demokratischen Kontrolle entzogen ist. Lüthje hat das Dilemma und die Folgen in mehreren Beiträgen für die Deutschen Wirtschafts Nachrichten beschrieben.

Bernd Lüthje, Jahrgang 1939, Dr. rer. pol., Universität Hamburg (Diss.: Die Funktionsfähigkeit der deutschen Aktienbörse, 1969), verschiedene Bank- und Verbandspositionen sowie Aufsichtsratsmandate von 1964 bis 2008, u. a. Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Öffentlicher Banken Deutschlands von 1990 bis 2002, Gründungsvorstandsvorsitzender der NRW.BANK in Düsseldorf und Münster von 2002 bis 2005, Aufsichtsratsvorsitzender der WestLB AG in Düsseldorf von 2002 bis 2004, Aufsichtsratsvorsitzender der Landesentwicklungsgesellschaft Nordrhein-Westfalen von 2005 bis 2008.

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