Autor: Christof Kerkmann, handelsblatt.com
Datum: 03.04.2015 13:56 Uhr
Schöne, vernetzte Welt: Der Ökonom Jeremy Rifkin glaubt, dass ein „Super-Internet der Dinge“ unsere Energieprobleme genauso überwindet wie den Kapitalismus. Eine Begegnung – und ein Versuch des Widerspruchs.
Hannover. Jeremy Rifkin wedelt mit seinen Pappkärtchen die Fotografen davon. „Okay, ich wäre dankbar, wenn jetzt jeder mit einer Kamera nach hinten gehen würde“, ruft er ins Mikrofon in seiner rechten Hand, während die linke den Weg aus dem Saal deutet. Nach einigen strengen Blicken durch die runden Brillengläser ist Rifkin zufrieden. Während die Zuhörer noch einen Stapel mit seinen Aufsätzen durch die Sitzreihen reichen, hebt er die Stimme. „Das Bruttoinlandsprodukt“ – er macht eine Kunstpause – „verlangsamt sich.“
Es ist eine Situation, wie Rifkin sie liebt. Ein Saal voll Menschen will Mitte März auf der Cebit hören, wie er die Welt erklärt. Der Wissenschaftler, Autor, Redner und Berater hat im vergangenen Jahr wieder ein Buch herausgebracht, „Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ heißt es auf Deutsch. Auf der IT-Messe in Hannover darf er den Geschäftsleuten erklären, wie funktionieren soll, was ihre VWL-Professoren früher als Utopie abgetan hätten. Dabei darf niemand ablenken.
Der 70-Jährige ist ein einflussreicher Denker. Einige seiner Bücher erreichen Millionenauflagen, Staats- und Konzernlenker lassen sich von ihm auf neue Ideen bringen. Kaum jemand vermag es, aktuelle Trends so griffig zu beschreiben. Doch seine ökonomischen Vorhersagen für die Zukunft gelten unter Fachleuten mindestens als gewagt, teils als utopisch, auf jeden Fall in vielen Details als angreifbar. Rifkin mag das große Szenario, nicht unbedingt die Nahaufnahmen.
Seine neue These: Ein „Super-Internet der Dinge“, das die Strom- und Transportnetze einschließt, soll nicht nur die Energieprobleme der Welt überwinden, sondern gleich auch den Kapitalismus in seiner heutigen Prägung. Und weil die USA immer noch voll auf Kohle und Öl setzen, kann sich Europa, dieser kriselnde Kontinent, mit Wind- und Sonnenkraft wieder an die Spitze der Weltwirtschaft katapultieren. Das klingt so verlockend, dass man den Amerikaner hier gerne hört.
Vor seinem Vortrag empfängt Rifkin in einem Café Journalisten. Wer vorgelassen werden will, so lässt die Pressestelle der Messe wissen, sollte zwei Artikel kennen: einen Aufsatz mit dem Titel „A Smart Green Third Industrial Revolution 2015 – 2020“ und ein Interview mit Wirtschaftsforschern von Goldman Sachs. Die Thesen des Forschers, komprimiert auf 17 Seiten. „Haben Sie meine Texte gelesen?“, fragt Rifkin zur Begrüßung freundlich.
Was man ihn fragt, ist dann egal. Er nutzt die Stichwörter, um innerhalb von zwei Sätzen auf sein Thema zu kommen. „Technologische Kräfte haben neue ökonomische Systeme erschaffen“, doziert er im Stakkatotempo. Drei Elemente seien besonders wichtig: neue Kommunikationstechnologien, um ökonomische Aktivitäten besser zu koordinieren; neue Energiequellen, um die Wirtschaft effizienter anzutreiben; und neue Transportmöglichkeiten, um Waren schneller in der Welt zu verteilen. In der ersten industriellen Revolution waren das beispielsweise Dampfkraft, Eisenbahn und Telegrafen.
Einsatz von Big DataMit Daten gegen Stau und Krebs
Big Data gegen den Stau: Forscher arbeiten an Systemen, die Verkehrsdaten in Echtzeit auswerten. Ziel ist es, dank intelligenter Steuerung das tägliche Stop and Go auf den Autobahnen zu vermeiden. Die Informationen liefern Sensoren in den Autos und am Straßenrand. Ein Pilotprojekt läuft derzeit beispielsweise in der Rhein-Main-Region, allerdings nur mit rund 120 Autos. Langfristig ist sogar das vollautomatische Autofahren denkbar – der Computer übernimmt das Steuer. (Foto: dpa)
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Es waren nicht nur gute Wünsche, die US-Präsident Barack Obama 2012 zur Wiederwahl verhalfen: Das Wahlkampf-Team des Demokraten wertete Informationen über die Wähler aus, um gerade Unentschlossene zu überzeugen. Dabei griffen die Helfer auch auf Daten aus Registern und Sozialen Netzwerke zurück. So ließen sich die Bürger gezielt ansprechen. (Foto: dpa)
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Was sagen die Facebook-Freunde über die Bonität eines Nutzers aus? Das wollten die Auskunftei Schufa und das Hasso-Plattner-Institut in Potsdam im Sommer 2012 erforschen. Doch nach massiver Kritik beendeten sie ihr Projekt rasch wieder. Dabei wollten die beiden Organisationen lediglich auf öffentlich verfügbare Daten zugreifen. Unternehmen in den USA haben weniger Hemmungen. Der Anbieter Experian etwa bietet einen Dienst namens Income Insight, der das Einkommen einer Person aufgrund vorheriger Kredite schätzt. (Foto: dapd)
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Bewegungsdaten sind für die Werbewirtschaft Gold wert. Der Mobilfunk-Anbieter O2 wollte sie deswegen vermarkten und sich damit neue Einnahmequellen erschließen. Dafür gründete er Anfang Oktober die Tochtergesellschaft Telefónica Dynamic Insights. In Deutschland muss die Telefónica-Tochter allerdings auf dieses Geschäft verzichten: Der Handel mit über Handys gewonnenen Standortdaten sei grundsätzlich verboten, teilte die Bundesregierung mit. (Foto: ap)
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Welches Medikament wirkt am besten? Die Auswertung großer Datenmengen soll dabei helfen, für jeden Patienten eine individuelle Therapie zu entwickeln. So könnten die Mediziner eines Tages die Beschaffenheit von Tumoren genau analysieren und die Behandlung genau darauf zuschneiden. (Foto: dpa)
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Damit die Energiewende gelingt, müssen die Stromnetze intelligenter werden. Big-Data-Technologien können helfen, das stark schwankende Stromangebot von Windrädern und Solaranlagen zu managen. (Foto: dpa)
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Welche Geschenke interessieren welchen Kunden? Und welchen Preis würde er dafür zahlen? Der US-Einzelhändler Sears wertet große Datenmengen aus, um maßgeschneiderte Angebote samt individuell festgelegter Preise zu machen. Dabei fließen Informationen über registrierte Kunden ebenso ein wie die Preise von Konkurrenten und die Verfügbarkeit von Produkten. Die Berechnungen erledigt ein Big-Data-System auf der Grundlage von Hadoop-Technik, an dem der Konzern drei Jahre gearbeitet hat. (Foto: dapd)
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Auch heute stehe eine solche Umwälzung bevor, ist Rifkin überzeugt: Energie- und Transportnetze wachsen durch Sensoren und Vernetzung mit dem Internet zusammen. „Communication, energy and transportation internet”, der Professor rattert die Begriffe immer wieder herunter. Die Folge: Häuser, Geschäfte, Lagerhallen, Äcker und Straßen erzeugen künftig genauso Daten wie das Stromnetz.
Die technischen Möglichkeiten sind das Fundament für Rifkins Gedankengebäude, auf das er eine ökonomische Theorie setzt. „Das Internet der Dinge erlaubt jedem, fast ohne Eintrittshürden auf diese Plattform zu gehen“, ist der Forscher überzeugt. Jeder könne sich an der digitalen Wirtschaft beteiligen. „Jeder hat eine Wertschöpfungskette. Sie und ich als Individuen, unsere Familien, unsere Firmen – wir sind permanent wirtschaftlich aktiv.“
Dank der Wind- und Solarkraft werde es irgendwann Energie im Überfluss geben. Und weil auch jeder die vielen Daten auswerten könne, werde die Wirtschaft immer produktiver. Die Grenzkosten – also die Kosten, um eine zusätzliche Einheit zu produzieren – sinken immer weiter gegen Null. Und damit verändert sich auch der Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Denn: „Wir befreien einige wirtschaftliche Aktivität für die Sharing Economy.“
Deutschland profitiere von dieser Entwicklung besonders: Das zweite Internet – das der Energie – entwickle sich hier besonders schnell.
Mit dem Super-Internet der Dinge hat Rifkin eine Super-Theorie aufgestellt, die verschiedenste, heiß diskutierte Themen integriert: Es geht ums Internet der Dinge und die Industrie 4.0, autonome Autos mit Elektroantrieben, Big Data, 3D-Druck, die Energiewende und die Sharing Economy. Wer seine Bücher gelesen hat, kann bei jedem Zukunftskongress die Stichwörter geben.
Doch dieses kühne Gedankengebäude ist an einigen Stellen schief. Einige Ökonomen haben sich schon an seinem Buch abgearbeitet und ihm Technik-Utopismus vorgeworfen. Nur ein Beispiel: Dass die Digitalisierung den Kapitalismus überwindet, ist angesichts der Bewertungen von Google, Facebook und zahlreichen Start-ups aus dem Silicon Valley nur schwer zu glauben. Vertreter der „Sharing Economy“ wie der Taxikonkurrent Uber und die Zimmervermittlung Airbnb gelten den Risikokapitalgebern als nächstes großes Ding. Der Kapitalismus hat sich bislang als ziemlich anpassungsfähig herausgestellt.
Auch das Menschenbild des Amerikaners ist sehr optimistisch. Sind die Entscheider wirklich bereit, die Einrichtung eines solchen Super-Internets voranzutreiben – wenn schon über eine Stromleitung nach Bayern so ausdauernd gestritten wird?
Doch es gibt nichts, auf das Rifkin keine Antwort hätte. Gewiss, die Infrastruktur müsse ausgebaut werden. Aber Deutschland stehe doch hervorragend da, sagt er lachend. „Meine Frau hat mir gesagt: Finde ein Schlagloch! Ich habe keines gefunden.“ Die USA seien im Vergleich ein Dritte-Welt-Land. „Deutschland muss sich bewegen bei Breitband, kostenlosem WLAN und Big Data. Aber bewegt sich schon beim Kern, der Energie, wo sich Effizienz und Produktivität steigern lassen.“
Auch auf der Cebit wirft Rifkin eine große Idee in die Runde. Er schlägt eine neue Seidenstraße vor: ein Hightech-Markt von Lissabon bis Shanghai, samt Infrastruktur für das Internet der Dinge, das über die gesamte eurasische Landmasse reicht. Kulturelle Unterschiede? Kein Problem, viele Chinesen haben an deutschen Universitäten studiert. Unterschiedliche politische Systeme, unterschiedliche Interessen? „Das ist eine große, herausfordernde Aufgabe“, gibt der Futurist zu. „Es gibt keine Garantie, dass passiert, worüber ich spreche.“ Trotzdem ist er optimistisch: „Die Technologie ist zu verführerisch. Warum sollten wir dazu nein sagen?“