2017-01-09

Diesem Beitrag liegt die These zu Grunde, dass Erziehungsverhältnisse a priori Machtverhältnisse sind, die in Gewalt ausarten können. Im Laufe der Moderne sind diese Verhältnisse nicht verschwunden. Allerdings macht das Versprechen der Moderne, die Zukunft sei nicht determiniert, ebenjene Macht thematisierbar. Diese Problematisierung soll dabei exemplarisch an den pädagogischen Vorlesungen Immanuel Kants nachgezeichnet werden, um mit Michel Foucault zu zeigen, welche Zusammenhänge zwischen Erziehung und Disziplinierung bestehen. Es soll skizziert werden, wie Macht in der Pädagogik Immanuel Kants ein berücksichtigendes Problem werden konnte und welche Umgangsweisen es damit gab und gibt. Dabei wird sich an das Konzept der Problematisierung von Michel Foucault angelehnt, wonach das Aufkommen und Verschiebungen zu einem Gegenstand aufgezeigt werden (vgl. Foucault 1996: S. 77-78). Diese Problematisierung am Beispiel Kants darf jedoch nicht mit einer Sozialgeschichte von Gewalt im Feld des Pädagogischen verwechselt werden. Die Grausamkeiten, zu denen es im Namen der Pädagogik gekommen ist, sind von Bedeutung und wurden historisch dokumentiert (vgl. Rutschky 2001). Zudem haben sie auch aufgrund von Geschehnissen in der jüngsten Vergangenheit nichts von ihrer Aktualität verloren (vgl. exemplarisch Brachmann 2015). Es stellt sich daher die Frage: Wie konnte Macht zu einem Problem des Pädagogischen werden?

Der Hinweis auf die Machtstruktur von Erziehungsverhältnissen wird anschließend erweitert um Pierre Bourdieus Perspektive der symbolischen Gewalt, durch welche verborgene Ausgrenzungsmechanismen in den Fokus rücken.

Welche Konsequenzen kann es jedoch für Menschen haben, in einer Gesellschaft zu leben, in der die Anforderung an das Individuum besteht „besonders“ zu sein? Dieser Frage soll im Anschluss an die Gesellschaftsdiagnosen von Andreas Reckwitz nachgegangen werden. Der Schwerpunkt soll hier auf dem Aufwachsen junger Menschen liegen und der Frage nachgehen, welche Rolle die von Pierre Bourdieu beschriebene symbolische Gewalt hier spielt.

Erziehung als Disziplinierung

Vormoderne Gesellschaften nehmen ihre eigene Ordnung als natürlich oder gottgegeben an. Verschiedene Praxen des Mit- und Vormachens sollen dazu dienen, die Heranwachsenden in die gegebene gesellschaftliche Ordnung einzugliedern (vgl. Wigger 2011). Wenngleich der hohe Grad an Komplexität in den pädagogischen Theorien der Antike oder des Mittelalters nachweisbar ist (vgl. exemplarisch Ballauf 1969), so ist die bestehende Ordnung dennoch grundlegend für Erziehungsverhältnisse und auch die Zukunft scheint mit erzieherischen Mitteln nur wenig gestaltbar.

Für die Moderne ist allerdings Kontingenz kennzeichnend. Das Zusammenleben der Menschen kann gestaltbar interpretiert werden (vgl. Machart 2013: S. 7ff.). Lebenswege könnten, rein theoretisch, auch anders verlaufen als es Tradition, Herrschende oder göttliche Ordnung vorgeben. Dass die freie Entscheidung über das eigene Leben empirisch gesehen eine Illusion bleibt und auch heute noch als idealisierende Vereinfachung gelten muss, hat für die theoretische Reflexion der Kontingenz zunächst keine Folgen.

In seinen im Jahr 1803 veröffentlichten Vorlesungen „Über Pädagogik“ trägt Kant dieser Unbestimmtheit der Zukunft Rechnung, da er das Aufwachsen als gestaltbaren Prozess beschreibt. Kant entwickelt eine Erziehungstheorie auf der Grundlage von Annahmen, wie Mensch und Tier unterscheidbar sind (vgl. Kant 1977: S. 697). Für ihn ist evident, dass Erziehung ein Alleinstellungsmerkmal der Gattung Mensch ist. Demgemäß definiert er Erziehung wie folgt: „Unter der Erziehung verstehen wir die Wartung (Verpflegung, Unterhaltung), Disziplin (Zucht) und Unterweisung nebst der Bildung“ (Kant 1977: S. 697). Neben pflegerischen Fürsorgetätigkeiten („Verpflegung, Unterhaltung“) sowie moralischer und intellektueller Veredelung („Bildung“) subsumiert Kant daher unter Erziehung auch Disziplin und Unterweisung. Im Erziehungsprozess werden Heranwachsende in Regelgefüge eingefügt und Verhaltensanforderungen überführt. Dieses Aufzeigen von Grenzen und Regelsetzungen stellt für Kant die Erziehung dar. Dies ist daher der Vorgang in welchem Menschen ihre tierische Natur überwinden und erst zum Menschen werden. Ein nicht erzogenes und in pädagogisch als wertvoll betrachtete Bahnen gelenktes Wesen wäre daher für Kant schwerlich als Mensch zu bezeichnen. Allein der pädagogischen Prämisse folgend, dass Menschen durch Unterweisung geformt werden müssen, ist jedoch noch nicht ersichtlich was Kant zu einem modernen pädagogischen Denker macht.

Neben die anthropologische Kategorie der Erziehungsbedürftigkeit stellt Kant eine zweite Kategorie – die Tendenz des Strebens nach Freiheit: „Der Mensch hat aber von Natur einen so großen Hang zur Freiheit, daß wenn er erst eine Zeitlang an sie gewöhnt ist, er ihr alles aufopfert.“ (Kant 1977: S. 698).

Moralisch verwerfliches Verhalten oder Gesetzesbrüche könnten daher als Gebrauch einer falsch verwendeten Freiheit verstanden werden – welche durch Erziehung begrenzt werden müsse: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.“ (Kant 1977: S. 699). Der Vorstellung der Kontingenz, also dass das Verhalten von Menschen nicht determiniert sei, wird insofern Rechnung getragen, als dass  die Freiheit des Handels von Kant als anthropologische Kategorie gedacht wird. Kants Pädagogik setzt dort ein, wo das Handeln von den Menschen selbst als Option denkbar wird. Doch für Kant ist nicht nur freies Handeln denkbar, sondern eben auch die erzieherische Beeinflussung jeglichen Handelns. Diese stellt er sich vor als die Abfolge von Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung (vgl. Kant 1977: S. 706f.). Es geht also bei der Erziehung immer auch um die Unterweisung in grundlegende Regeln menschlichen Zusammenlebens, die Einführung in ein Kultursystem, die Ausbildung von funktionellen Fähigkeiten in diesem Kultursystem und die Verinnerlichung von gesellschaftlicher und transzendentaler Moral. Es ist die Freiheit des Menschen, die diese Zwangsmaßnahmen erforderlich macht.

Die daraus folgende Konsequenz ist nicht weniger als ein grundlegendes Paradoxon von Erziehung: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ (Kant 1977: S. 711). Wenn der Mensch ein Bedürfnis danach hat frei zu handeln und frei sein soll, wie ist es schließlich für Kant zu rechtfertigen, dass man dafür Zwang anwenden kann? Am Beispiele Kants wird deutlich, dass Zwang, welchen Menschen in ihrem Aufwachsen erfahren, nicht nur a priori eine Tatsache darstellt, sondern auch seine Richtigkeit habe, da diese Zwangserfahrungen anthropologische Begründungen erfahren. Der Mensch muss in seiner Freiheit beschnitten werden, weil er diese Freiheit habe, aber weil gerade die Beschneidung dieser Freiheit ihn vom Tier unterscheide.

Das Problem der Disziplinierung des Menschen taucht also mit der Moderne auf. Welche sozialgeschichtlichen Reaktionen kann es jedoch darauf geben? Die Thematisierung von Erziehung und wie die sich damit entstehenden Machtverhältnisse rechtfertigen lassen, ist nur ein Punkt unter vielen. Kant neigt zwar dazu, der Erziehung einen hohen Stellenwert beizumessen, trotz dessen ist die Kontingenz des Handelns der Menschen etwas, dass alle in der Gesellschaft Aufwachsenden und Lebenden betrifft. Michel Foucault zeigt am Beispiel der Entstehung des modernen Strafwesens, zu welcher folgenreichen Veränderung es durch derartige Annahmen in Strafpraxis und Schule kommen kann (vgl. Foucault 1977). Richteteten sich vormoderne Strafpraxen auf den Körper des Individuums, so wird im Laufe der Moderne eine Täter*in hinter der Tat angenommen. In der Vormoderne wurde der Köper der/des Straffälligen bestraft. Mit Beginn der Moderne ist es die antizipierte Seele, die es zu disziplinieren gilt. Gemäß diesem Credo lassen sich auch offensichtlich gewalttätige Zwangsmaßnahmen wie beispielsweise der Freiheitsentzug in das Gewand des Pädagogischen kleiden. Hier zeigt sich, wie das moderne Verständnis von Pädagogik dem moralischen Anspruch der Freiheit gerecht werden möchte, wobei dies unter Anwendung von Disziplinierungen pädagogischer oder polizeistaatlicher Art erfolgt.

Es ist also ein Zwangscharakter aller pädagogisch geleiteten Lebensverhältnisse anzunehmen. Die Kontingenz der Moderne änderte dies im Sinne der Unbestimmbarkeit und dem Wegfall ahistorischer Zielrichtungen des Lebens. Trotzdem bleiben allerdings pädagogische Handlungen freie Handlungen, die die Freiheit eines Anderen limitieren, im Glauben daran, man könne diesen Anderen zur Freiheit befähigen (vgl. Wimmer 2006). Aufgrund dieser paradoxalen Grundstruktur spricht beispielsweise Michael Wimmer von Pädagogik als der „Wissenschaft des Unmöglichen“ (vgl. Wimmer 2014).

Symbolische Gewalt

Während das letzte Kapitel die praktischen Gewalt- und Zwangsverhältnisse von erzieherischen und staatlichen Handlungen untersuchte, geht es nun um die symbolische Seite der Gewaltverhältnisse, in welchen junge Menschen aufwachsen. Der Prozess des Aufwachsens ist nicht nur von direkten Einwirkungen beeinflusst, auch auf subtileren Ebenen herrschen Gewaltverhältnisse. Markus Rieger-Ladich stellt die These auf, dass die Erziehungswissenschaft pädagogische Verhältnisse allzu oft zum Schein harmonisiere. Das Bewusstsein dafür, dass in pädagogischen Verhältnissen physische und psychische Gewaltverhältnisse zu verhindern seien, könne nicht darüber hinwegtäuschen, dass symbolische Gewalt jegliche Prozesse des Erziehens, aber auch des Aufwachsens generell, durchdringe (vgl. Rieger-Ladich 2011).

Rieger-Ladich beruft sich in dieser These auf die Theorie der „symbolischen Gewalt“ Pierre Bourdieus. Symbolische Gewalt ist ein Bündel von Praktiken, die Menschen ausübten, die ihnen aber keinen konkret quantifizierbaren ökonomischen Nutzen bringe. Dies unterscheide symbolische Gewalt von direkten psychischen oder physischen Ausbeutungsverhältnissen, welche ihren Nutzen in ökonomischer Bereicherung haben. Die Ausübenden symbolischer Gewalt schaffen dennoch asymmetrische (Macht-)Verhältnisse, die sich dadurch ausdrücken, dass sie bei den Geschädigten symbolischer Gewalt Affekte des Dankes und der Hochachtung hervorrufen. Diese Affekte führen zu Praxen der moralischen Orientierung, der Anerkennung oder in die Einsicht, die eigene gesellschaftliche und gegebenenfalls prekäre Stellung sei gerechtfertigt (vgl. Bourdieu 1987: S. 222-231).

Symbolische Gewalt wirkt paradox: Sie ist auf der einen Seite subtiler, auf der anderen Seite allgegenwärtiger. Sie erzeugt keinerlei direkte physische Schädigungen und kommt ohne die Inanspruchnahme von Drohgesten aus. Sie wird insofern allgegenwärtiger, als dass sie im Körper der Betroffenen wirkt und ihre Affekte dahingehend reguliert, dass es ein Einverständnis über die gesellschaftliche Objektivität gibt. Die Ausübenden versetzt diese Gewaltausübung in eine Herrschaftsposition, welche die Erleidenden durch ihr Einverständnis rechtfertigen und temporär festigen (vgl. Bourdieu 1987: S. 231-231).

Diese asymmetrischen Verhältnisse, welche das Zusammenleben von Menschen durchziehen, nehmen solche Formen an, dass die Ausübenden symbolischer Gewalt in ihrem sozialen Feld mit Autorität ausgestattet sind. Diese Autorität wird durch Praktiken symbolischer Gewalt erkämpft und durch den abwertenden Affekt bei den Ausgelieferten symbolischer Gewalt gefestigt. Eben jene Autorität wird aber nicht als Errungenschaft einer Praxis wahrgenommen, sondern von beiden Seiten als Eigenschaften der  Herrschenden angesehen. Die Autorität ist lediglich Ergebnis ebendieser Praxis und daher weitgehend unabhängig von institutionellen Machtgefügen, die Personen in Machtpositionen mit erweiterten Handlungsoptionen privilegieren. Zentral für den Erhalt der Macht und des Herrschaftsgefüges ist nun aber nicht nur, dass der oder die Beherrschte sich dem Wertesystem beugt. Die Ausübenden symbolischer Gewalt stehen ebenso unter dem Zwang, das eigene Wertesystem streng zu befolgen, da dies sonst ihre eigene Autorität gefährden könnte. Symbolische Gewalt hat daher eine doppelt zwanghafte Wirkung auf alle Beteiligten (vgl. Bourdieu 1987: S. 234-236).

Was dies für das Aufwachsen junger Menschen bedeuten kann, soll nun exemplarisch anhand von Sarah Thorntons an Bourdieu angelehnter Studie „Club cultures. Music, media and subcultural capital“ dargestellt werden (vgl. Thornton 1995). In ihrer auf Ethnografie und Interviews basierenden Studie nimmt Thornton die sich formierende Technoszene Englands Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre in den Blick. Die Szene ist weit entfernt von jeglichen institutionellen Rahmen und ist ihrer Selbstdefinition nach betont egalitär. Die Interessen wie Partys, Musik und Drogen scheinen gemeinsamer Nenner aller an der Subkultur Partizipierenden zu sein. Dennoch ist die Szene durchzogen von Hierarchien und wird dominiert durch Autoritäten, welche mehr Einfluss auf das Szeneleben nehmen als andere. Sie kann dies auf folgende Faktoren zurückführen: „taste in music, form of dance, kinds of ritual and styles of clothing” (Thornton 1995: S. 99). Die Grenzziehungen erfolgen daher (trotz des gemeinsamen Nenners an Interessen) in der Szene aufgrund feiner Unterscheidungen des Musikgeschmacks, des Tanzstils, der Ritualisierungen und der Kleidung. In Bezugnahme auf Bourdieus Theorie, wovon gesellschaftlicher Status von ökonomischen, sozialen und kulturellem Kapital abhängig sei, deklariert sie, in subkulturellen Jugendszenen komme es auf „subkulturelles Kapital“ an. Hier zeigt sich, wie durch Praktiken innerhalb des Mikrokosmos der Jugendszene symbolische Gewalt und somit Hierarchien konstituiert werden.

Sichtbarkeitszwänge

Andreas Reckwitz Zeitdiagnose deutet eine Verschiebung der Machtpraktiken an. Im Anschluss an Foucaults Überlegungen zu Disziplinierungen sieht er hier einen Bruch. Er geht nicht von einem kompletten Wegfall von Disziplinierungen aus, sondern von einer Verschiebung. Der disziplinierende Blick versucht Menschen einer Norm anzupassen. Er arbeitet mit Angst vor Schuld und Scham. Die riesigen Darstellungsräume des Digitalen sowie die Ausweitung des Feldes des Kulturellen schaffen allerdings Selbstverhältnisse, in denen es nicht mehr darum geht, nicht von der Norm abzuweichen. Anforderung an das Subjekt ist weniger, nicht mehr aus der Reihe zu tanzen, sondern sichtbar zu sein und in den Wettbewerb mit anderen zu treten. Anstelle der Angst vor Bestrafung, tritt eine diffuse Angst vor Unsichtbarkeit. Diese Angst vor Unsichtbarkeit kann zu depressiven Verstimmungen oder zu Gewaltausbrüchen in Form von Hassreden unter anonymisierten Bedingungen im Internet erfolgen (vgl. Reckwitz 2015b).

Was heißt es für Heranwachsende, wenn es gilt um jeden Preis sichtbar zu sein? In besonders ausgeprägter Weise könnte dies zu einer massiven Zunahme an Grenzziehungen unter Rückgriff auf symbolische Gewalt führen. Der stumme Zwang des Sichtbaren könnte zu einer Durchästhetisierung des Auftrittes führen, welcher sehr aggressiv erscheinen könnte. Dies könnte die exzessive Durchgestaltung des Körpers mit den einhergehenden modulierbaren Aspekten der Psychomotorik sowie den Umgang mit Artefakten betreffen. Der Körper müsste auf jeden Fall auffallen. Artefakte müssten auf jeden Fall besonders sein – quasi alles könnte zum Statussymbol werden. Der Bedeutung der Ästhetik in der Gesellschaft scheinen kaum Grenzen gesetzt zu sein (vgl. Reckwitz 2015 a).

Gewalt erkunden

Ich habe zu zeigen versucht, dass Erziehungsverhältnisse immer Machtverhältnisse sind, da von ihnen disziplinierende Wirkungen ausgehen. In der modernen Pädagogik werden diese spätestens seit Immanuel Kants Vorlesungen über Pädagogik thematisiert. Das Spannungsfeld von Freiheit und Zwang, da Erziehung unter den Bedingungen gesellschaftlicher Kontingenz gedacht werden muss, tritt hier deutlich zu Tage. Allerdings scheint sich Kant für die Notwendigkeit von Zwang entschieden zu haben, was zur Disziplinargeschichte Foucaults passend ist.

„Symbolische Gewalt“ begegnet Jugendlichen im Aufwachsen in der Gesellschaft und im Rahmen ihres von subkulturellem Kapital geprägten Mikrokosmos. Gesellschaftliche Tendenzen der steigenden Anforderung an das Subjekt sichtbar, besonders und kreativ zu sein, könnten zu verstärkten oder aggressiveren Formen symbolischer Gewalt führen.

Konzepte der Subjektivierung erscheinen produktiv, um sich diesem Phänomen weiter zu nähern (vgl. zum Begriff Rieger-Ladich 2012: S. 57-73; zum Konzept exemplarisch Alkemeyer 2013: S. 33-68). Die Konzepte dieser Theorielinie nehmen kein vorexistierendes Subjekt an. Sie gehen von einem werdenden Subjekt aus, das Praktiken ausführt. Machstrukturen bestimmen diese Praktiken, sind aber überschreitbar und fragil.  Den Machtverhältnissen, in welcher Erziehende, Unterrichtende und Bildende den zu Erziehenden gesellschaftliche Anforderungen näherbringen (ökonomische Leistungsanforderungen, gesellschaftliche Normen und Werte, schulische Curricula, sozialpädagogische Rahmenordnungen und so weiter) können durch Diskursanalysen erschlossen werden. Konkrete Praktiken können als Subjektivierung in einem sozialen Feld ethnografisch beobachtet werden (vgl. Reckwitz 2008). Ethnografische Forschungen, welche die Sichtbarkeitsordnungen im öffentlichen Raum betreffen (durchtrainierte Körper, Tätowierungen, Mode), Rituale zu Feierlichkeiten oder auch Selbstdarstellungspraktiken in digitalen Plattformen, drängen sich förmlich auf.

Dies könnten beispielsweise Mikrostudien sein, deren Erkenntnisgewinn im Erkunden der Gewaltverhältnisse läge, welche den Lebenswelten von Heranwachsenden zugrunde liegen. Sie wären dadurch eine Alternative zu Studien, die unter enormem Aufwand versuchen Repräsentativität zu erreichen. Da sie Machtverhältnisse unberücksichtigt lassen und annehmen, jede Jugend habe quasi unbegrenzt Gestaltungsspielraum, können prominente Studien die Jugend 2016 entweder als „revolutionär“ (vgl. Hurrelmann/Albrecht 2016) oder „normal“ wahrnehmen (vgl. Bodo Flaig et al. 2016). Es geht an dieser Stelle nicht darum, das methodische Design derartiger Vorhaben zu kritisieren. Ziel ist es, eine Fragwürdigkeit des Erkenntnisgewinns aufzuzeigen, der mit der Operationalisierung zusammenhängt, Aussagen über „die Jugend“ treffen zu wollen.

Die Einsicht in Machtverhältnisse hat dennoch in der Regel weder Individuen noch Gesellschaften dazu bewogen, Abstand von der Praxis der Erziehung zu nehmen. Trotzdem können Machtverhältnisse Spielräume der Gewalt werden, auch wenn sie gerade diese verhindern wollen. Sich mit Gewalt und Macht zu beschäftigen, auch im normativ umstrittenen Feld der Erziehung, heißt schlicht das in den Blick zu nehmen, was aufgrund seiner Irritationen allzu gerne verdrängt wird.

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Zum Autor:

Lukas Schildknecht, 28, studiert an der TU Dortmund im Master Erziehungswissenschaften mit den Schwerpunkten Bildungstheorie und -forschung. Darüber hinaus interessiert er sich für kulturwissenschaftliche Bildungsforschung und Wissenschaftsforschung.

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