2015-01-03

Meinhard von Gerkan

Ein Porträt von Prof. Dr. Gert Kähler

Meinhard von Gerkan wurde am 3. Januar 1935 in Riga geboren, damals eine Stadt im national selbständigen Lettland mit einer Bevölkerung aus Letten, Russen und Deutschen. Die Familie war Teil der deutschbaltischen Oberschicht, die nach dem Nichtangriffspakt zwischen Stalin und Hitler und damit der Überlassung des Baltikums an die Sowjetunion umgesiedelt wurde, zu einem großen Teil in die seit Kriegsbeginn besetzten polnischen Gebiete. Von Gerkan zog mit seinen Eltern nach Posen, wo er 1941 eingeschult wurde - da war er sechs Jahre alt.

14 Jahre später hatte er 12 Schulen besucht, in mehreren Familien in verschiedenen Städten gelebt, Vertreibung und Flucht als Kette von Katastrophen erfahren, die eng mit dem Ende des nationalsozialistischen Deutschland verknüpft waren: 1942 starb der Vater an der Ostfront, am Ende des Krieges flüchten Mutter und Sohn nach Niedersachsen, wo die Mutter bald darauf stirbt. Der Sohn kommt zu mehreren Pflegefamilien, seit 1949 in Hamburg, besucht erst eine Mittelschule, später eine Rudolf-Steiner-Schule, bis er schließlich 1955 sein Abitur an einem Abendgymnasium macht.

Was macht so eine Kindheit und Jugend mit einem?

Es folgen zwei Semester Physik- und ein Semester Jurastudium, bis er 1957 sein Architekturstudium an der Technischen Universität Berlin beginnt. Dort trifft er auf Volkwin Marg, der aus der DDR nach Westberlin geflüchtet war. Es treffen sich zwei hochbegabte Architekturstudenten, die wohl auch durch ein ähnliches Schicksal von Zerrissenheit und der Suche nach einer Ordnung geprägt waren. Beide gingen 1961 an die Technische Hochschule in Braunschweig, in jener Zeit sicher eine der konzentriertesten und besten Architekturfakultäten in Deutschland, mit Lehrern wie Friedrich Wilhelm Kraemer, Dieter Oesterlen und Walter Henn.

Im gleichen Jahr 1964 bestanden von Gerkan und Marg ihr Diplom. Ihre Zusammenarbeit hatte da schon begonnen, indem sie für andere Büros Wettbewerbe erarbeiteten und gewannen; ihre Qualität als Architekten war früh unumstritten. Gebaut hatten sie allerdings noch nichts. Gleich nach dem Diplom gründeten von Gerkan und Marg ihr bis heute bestehendes gemeinsames Architekturbüro gmp in Hamburg. Das ist einigermaßen ungewöhnlich, weil üblicherweise für Architekten erst eine Art „Lehrzeit“ in einem Architekturbüro absolviert wird, damit man auch das praktische Bauen lernt, das damals an den Hochschulen kaum vorkam. Entsprechend mussten die beiden improvisieren, als sie gleich im ersten Jahr 1965 nicht nur den Wettbewerb für den Bau des Flughafens Tegel in Berlin gewannen, sondern auch den Auftrag zur Realisierung erhielten: Die Geschichten, wie dem Bauherren eine Art potemkinsches Dorf namens „Architekturbüro gmp“ vorgestellt wurde, sind auch heute noch amüsant zu hören.

Es war ein Start von Null auf Hundert: Gleich im ersten Jahr wurden sieben Wettbewerbe gewonnen, denen Aufträge folgten. Was man von heute aus kaum angemessen würdigen kann: Dass das funktioniert hat und erfolgreich war. Denn es reicht ja nicht, ein guter Entwerfer zu sein; der Architekt ist auch Kaufmann, Bauleiter, Konstrukteur, Organisator - alles Berufe, die man nicht auf der Hochschule gelernt hat. Um es am Beispiel des Flughafens Berlin-Tegel zu zeigen: Der basierte nicht nur auf einem höchst innovativen Konzept, das es - im Zeitalter des PKW - den Passagieren erlaubte, fast an den Abfertigungsschalter heranzufahren, er wurde auch in der vorgesehenen Bauzeit von fünf Jahren fertiggestellt - und war fünf Prozent billiger als ursprünglich veranschlagt. Auch der Brandschutz funktioniert offenbar bis heute ...

Die Erfolgsgeschichte des Büros ist weitgehend bekannt: mehr als 325 erste Preise in Wettbewerbsverfahren, mehr als 370 fertigestellte Bauten - das kann kein deutsches und kaum ein internationales Büro vorweisen. gmp ist heute einer der „leading actors“ unter den Architekturbüros weltweit, und das wird international gewürdigt: Von Gerkan ist Ehrenmitglied des American Institute of Architects, mehrfacher Ehrendoktor, ihm wurde der Rumänische Staatspreis verliehen, er ist Ehrenprofessor einer chinesichen Hochschule, Advising Professor einer weiteren, hält Vorträge und Gastprofessuren in aller Welt.

Auch in Deutschland wurden Büro und Person mit zahlreichen Auszeichnungen gewürdigt, bis hin zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes. Dennoch: Der Prophet im eigenen Lande? Unter den Kollegen und den Architekturkritikern wurde und wird Erfolg nicht immer anerkannt; man sagte dem Büro nach, sie seien Anpassungskünstler an einen Jury-Geschmack. Darin liegt ein wahrer Kern, der aber auf einer falschen Annahme beruht, die den Kern negativ deutet. Denn umgekehrt muss man fragen: Welcher Sinn soll darin liegen, immer, bei jeder Bauaufgabe formale Sensationen anzubieten? Dem Bauen unserer Zeit mangelt nicht das Sensationelle, sondern das qualitätvolle Normale. Das hören die Architekten nicht gern - sie sind selbstbewusst genug, von ihren herausragenden Fähigkeiten überzeugt zu sein, und das mit Recht. Aber nicht jedes Bürohaus, nicht jeder Gewerbebau oder jede Wohnanlage muss zeigen, dass sie einmalig ist. Sie muss vielmehr zeigen - und das schaffen gmp in der Regel -, dass sie Teil einer gebauten Umgebung und damit Teil der Bauten einer Gesellschaft sind. Die bestehen nicht aus einer Summe von Einmaligkeiten.

Meinhard von Gerkan erkannte das sehr früh; 1974 wurde er zum Professor an die Braunschweiger Hochschule berufen, und in seiner sicherlich programmatischen Antrittsvorlesung sagte er: „Nicht eine Verdammung der Technologie bedeutet einen Ausweg, sondern die Unterordnung technischer Möglichkeiten unter gesellschaftliche Zielsetzungen“, und forderte weiter, die Arbeit der Architekten müsse „darauf gerichtet sein, Architektur dem Denk- und Handlungsraum von Konsumware zu entreißen und ihr die Wertstelle von Kulturgut zu geben“. Im Kern heißt das, dass die Architektur nicht der „Aldisierung des Denkens“ Vorschub leisten darf, die im Billigsten gleichzeitig auch das Beste sieht. Diese Gesellschaft, die sich eine Stadt baut und ihre öffentlichen Räume, diese Gesellschaft, die den Architekten und den Bauämtern und den Baufirmen einen Anspruch, eine Forderung gegenüberstellt - diese Gesellschaft: Das sind doch wir! Wenn wir von öffentlichen Räumen sprechen, wenn wir vom Staat sprechen: Dann sprechen wir von uns! Warum sollen wir mit weniger Qualität, mit dem Zweitbesten, dem Billigsten zufrieden sein?

Die feste Überzeugung, die Gestaltung der gebauten Umwelt sei der Weg, das Wohlbefinden der Gesellschaft zu fördern, die treibt von Gerkan um: Gestaltung, Form-Gebung ist nicht nur Gestaltung und Form-Gebung als Selbstzweck, sondern schafft einen Mehrwert für alle. Wenn das andere nicht erkennen, dann macht ihn das zornig - von Gerkan ist nicht immer eine einfache Person. Die überall aufgestellten Hindernisse auf dem Weg zu einer gestalteten Ordnung lassen ihn bisweilen die Contenance verlieren - legendär die gerichtliche Auseinandersetzung um die Qualität des Berliner Hauptbahnhofes. Die würden sich nur wenige Architekten in Deutschland erlauben. Wenn dem „dialogischen Entwerfen“, wie er es nennt, der eine Partner abhanden kommt, dann kann nichts Gutes entstehen: Die Gesellschaft, die ihn einereits fordert, muss ihm, dem Architekten, andererseits auch die Mittel geben. Und das darf man sagen und den Zorn öffentlich machen, wie von Gerkan es auch mit seinem Buch über das Desaster des Berliner Flughafens getan hat. Und man kann etwas dagegen tun, wenn man einen Missstand erkannt hat:

Die Academy for Architectural Culture, die gmp ins Leben gerufen hat und deren Präsident von Gerkan ist, stellt einen - privat finanzierten - Schritt zu einer besseren Ausbildung von Architekten dar.

Der Erfolg des Büros hielt nach dem stürmisch-erfolgreichen Beginn viele Jahre an, mit dem Schwerpunkt in Deutschland, aber immer mit der Neugier, auch außerhalb der Republik Erfahrungen zu sammeln: Der 1. Preis im Wettbewerb für die Nationalbibliothek in Teheran oder dem für den Flug-hafen in Algier zeigen das schon früh. Einen wirklichen Schub aber bekam die Arbeit des Büros mit dem Wettbewerbserfolg und dem Bau der Deutschen Schule in Beijing im Jahr 2000. Die Faszination, für ein sich so dynamisch entwickelndes Land wie China, später auch anderswo in Ostasien und inzwischen in der ganzen Welt zu bauen, wo häufig nicht die als kleinkariert empfundenen bürokratischen Hindernisse auftreten wie in Deutschland (dafür allerdings bisweilen andere) - das gab nicht nur dem Büro neuen Schwung, sondern auch den beiden Protagonisten. Und die Chance, mit fast siebzig Jahren eine ganze Stadt für 1,3 Millionen Einwohner neu zu bauen (Linggang bei Shanghai) - das ist für jeden Architekten eine Herausforderung, die von Gerkan gern annahm. Er genießt die Herausforderung, er genießt die öffentliche Anerkennung, sie beflügelt ihn. Denn im Kern ist es einfach mit der Architektur: Von Gerkan sieht die „Umweltmisslichkeit“ (sein Begriff) allüberall, und er will das verändern. Er will Ordnung schaffen in der Welt, vom kleinsten Möbelstück bis zur ganzen Stadt (und gerade seine Möbelentwürfe sind die Erfüllung dessen, was er propagiert - „Er-strebe vom Einfachsten das Beste“).
Keine Frage: Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die Architektur das nicht wirklich leisten kann - „Ordnung schaffen in der Welt“. Aber was spricht dagegen, es dennoch zu versuchen?

Autor
Prof. Dr. Gert Kähler, Hamburg, Architekturkritiker und Publizist

Fotografen
Rodrigo Andaeta Torres (Handzeichnung), Timmo Schreiber Photography

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