2014-06-09

Lucio schrieb melancholische Gedichte, Casimiro malte in Spät-Jugendstil-Manier zarte Nymphen und Trolle, und eine Meute halb verwilderter Hunde hielt ungebetene Gäste fern.

Irgendwann faßte sich der scheue Lucio ein Herz und schickte ein Bündel seiner Gedichte an den berühmten Lyriker Eugenio Montale. Montale (der 1975 den Nobelpreis erhielt) fand soviel Geschmack an den Versen, daß er den vermeintlichen Nachwuchsautor zu einem Poetentreffen ins Kurbad San Pellegrino einlud. Der weltscheue Piccolo, da er sich allein nicht dorthin traute, überredete Tomasi, ihn zu begleiten, und der wiederum hielt es für ratsam, das Abenteuer nicht ohne Beistand eines Dieners zu wagen.

Im lombardischen Literatensommer 1954, in dem Neorealismus und politisches Engagement auf der Tagesordnung standen, müssen die beiden sizilianischen Aristokraten in ihren schwarzen Anzügen wie bizarre Irrläufer aus einer anderen Epoche gewirkt haben – doch sie machten auch Eindruck, durch ihren Lakaien wie durch ihre polyglotte Eleganz. Tomasi aber, der bisher zu Dichtern aus anbetender Distanz aufgeblickt hatte (mit Shakespeare, Keats und Stendhal in den höchsten Rängen) kam nach den Begegnungen auf Augenhöhe in San Pellegrino zu dem Schluss, was jene könnten, könne er auch, und begann zu schreiben – ein lustvoll fabuliertes Porträt seines Urgroßvaters, das unter der Hand Züge eines Epochenromans anzunehmen begann.“ Und dies in des Wortes doppelter Bedeutung: Louis Aragon feierte den Gattopardo bereits 1959 als den `vielleicht einzigen Roman des 20. Jahrhunderts in Italien´. Tomasi hatte fast sein gesamtes Leben damit verbracht, zu lesen; erwartungsgemäß hätte sein Buch epigonale Züge aufweisen, aus den Zeilen etwa Stendhal hindurchschimmern müssen, doch nichts dergleichen. Sein Stil war unverwechselbar, eine seltsame Melange aus Gegensätzen: realistisch-verträumt, glasklar – metaphorisch, ironisch, nicht zynisch, geschmackssicher, nicht ästhetizistisch. Gleichsam erhellend war übrigens der übrige, recht schmale Corpus seiner Schriften, einige Erzählungen, von denen insbesondere `Die Sirene´ betört, und einige bestechend scharfe Porträts englischer und irischer Dichter, die ich aus den deutschen, bei Wagenbach erschienenen Übersetzungen kennen und schätzen gelernt hatte. Seinen `Gattopardo´ zu lesen – oder eigentlich: zu trinken, zu saugen, aufzuschlürfen – hatte ich bisher versäumt, in der wie immer falschen Annahme, eine gelungene Verfilmung enthebe der Lektüre.

Wahrscheinlich lag es daran, daß ich das Buch vor Jahrzehnten, in einen braunen Umschlag eingebunden, im Bücherschrank meiner Tante entdeckte, in sehr schlechter Gesellschaft, Bänden à la `Wie süß das Mondlicht auf den Hügeln schläft´ und `Angelique und der Sultan.´ Es taugte offensichtlich nichts. Wie beglückend, daß ich mein Urteil jetzt durch einen Zufall revidieren konnte.

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