2016-11-02

Am 31. Oktober 1517 versandte der Wittenberger Augustinermönch Martin Luther 95 Thesen, in denen er mit scharfen Worten die damalige Ablasspraxis der lateinisch-christlichen Kirche angriff. Es sollte der Beginn der Reformation werden. Sie trat an, um die lateinische Christenheit und ihre Kirche grundlegend zu erneuern. Das Ergebnis aber war ihre Teilung. Sie führte zu einer noch heute gelebten konfessionellen Vielfalt.

Unzweifelhaft ist das Christentum eine der großen Wurzeln Europas. Es gehört zur Geschichte und Identität Europas. Da mögen die Kirchen dieser Tage noch so leer sein und viele Menschen das Wort nur noch hören, aber nicht mehr verstehen.

313 n. Chr. wurde das Christentum mit der konstantinischen Wende vom römischen Kaiser akzeptiert. Wenige Jahrzehnte später wurde es zur Staatsreligion. Über die folgenden Jahrhunderte prägten die engen Verbindungen wie auch die Auseinandersetzungen zwischen Papst auf der einen und Kaisern und Königen auf der anderen Seite das europäische Abendland.

Anfang des 16. Jahrhunderts befand sich die Kirche in einem schlechten Zustand. Ämterkauf und Ämterhäufung wie auch der Bruch des Zölibats waren an der Tagesordnung. Immer wieder war der Ruf nach Reformen laut geworden. Vor Martin Luther vertraten bereits John Wyclif in England und Jan Hus im heutigen Tschechien reformatorische Ideen. Beide waren rund 100 Jahre zuvor auf dem Konzil von Konstanz verurteilt worden. Ulrich Zwingli in Zürich und Martin Bucer in Straßburg waren seine Zeitgenossen. Menno Simons, der Führer der Täufer, lebte von 1496 bis 1561. Als Luther in seinem 26. Lebensjahr stand, wurde Johannes Calvin geboren.

Gleichwohl waren es der Wittenberger Theologe und sein Mitstreiter Philipp Melanchthon, die zu Beginn der Reformation die größten Impulse setzten.

Die Reformation in einigen Ländern der Europäischen Union

Früh studierten aufgrund der engen Verbindung im Ostseeraum etliche Theologen aus den skandinavischen Ländern in Wittenberg und brachten mit ihrer Rückkehr die evangelische Erneuerung nach Dänemark, Schweden, Finnland und Norwegen. So wurden die skandinavischen Länder schon in den 1530er- Jahren größtenteils evangelisch.

In England machte das Parlament 1534 mit der Suprematsakte König Heinrich, den VIII. zum Oberhaupt der englischen Kirche. Dabei ging es dem englischen König nicht so sehr um sein religiöses Selbstverständnis. Gleich zu Beginn der Reformation, 1521, hatte er sich noch höchstpersönlich – und gestützt auf seinen Lordkanzler Thomas Morus – gegen Martin Luther gewandt und für die Beibehaltung der sieben Sakramente geworben. Das trug ihm vom Papst sogar den Titel Defensor fidei, Verteidiger des Glaubens, ein – einen Titel, den britische Könige bis heute führen. Gleichwohl fassten Ideen der Reformation auch in England Fuß. Tyndale war 1524 nach Wittenberg gekommen und hatte die Bibel ins Englische übersetzt. Dem englischen König aber ging es bei der Einführung der Reformation in erster Linie um seine eigene Unabhängigkeit und Macht und um die Zukunft seiner Dynastie. So wurde der Auslöser für die Einführung der Reformation in England eine Heiratsgeschichte mit einer der späteren sechs Ehefrauen des englischen Königs. Es hatte an der Geburt eines männlichen Nachfolgers gemangelt. Das wiederum ist als Auslöser für die Lossagung von Rom ungefähr so absurd wie heute der innerparteiliche Machtkampf von zwei Schuljungen aus Eton der Auslöser für den Brexit ist. Fast überflüssig zu erwähnen, dass Heinrich, der VIII. seine neue Ehefrau nach drei Jahren enthaupten ließ. Die Auseinandersetzungen um den richtigen Glauben jedoch blieben. Sie prägten Großbritannien letztlich tief – bis hinein in seine Bürgerkriege. Noch heute sind Fragen des rechten Glaubens in Nordirland sehr lebendig. Und erst das Karfreitagsabkommen von 1998 sorgte für neuen Frieden. Nun fragen sich viele zu Recht, ob dieser Friede bei einem Brexit Bestand haben wird.

Auch bildete die anglikanische Kirche den Boden, auf dem weitere evangelische Kirchen entstanden: Puritaner, Presbyterianer, Baptisten und Methodisten – sie alle gehen auf die anglikanische Kirche zurück und übten letztlich einen tiefen Einfluss auf die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika aus.

In Frankreich wurden die Schriften Martin Luthers bereits zu Beginn der Reformation verboten. Unter dem Einfluss von Johannes Calvin kam es dann 1559 zu einem eigenen reformierten Bekenntnis. Das verhinderte jedoch nicht ein Blutbad an Tausenden von Protestanten in der berühmtberüchtigten Bartholomäusnacht von 1572. Erst das Edikt von Nantes 1598 gewährte Protestanten in Frankreich dauerhafte religiöse Freiheiten. Rund 100 Jahre später, 1685, widerrief es Ludwig der XIV. mit der Formel „Un roi, une loi, une foi“. Das folgende Bündnis von absolutistischem Staat und einer intoleranten katholischen Kirche begünstigte einen lebhaften Antiklerikalismus in Frankreich. Gestützt auf die Ideen der Aufklärer kam es schließlich zu einem weiteren Weltereignis, der französischen Revolution von 1789 mit ihrer Erklärung der allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte.

Die heutigen Benelux-Staaten kamen 1477 durch die Heirat von Maria von Burgund mit Maximilian in das Habsburger Kaiserreich. Sie waren die Großeltern jenes Kaisers Karl, des V., der später der große Gegenspieler Martin Luthers werden sollte. Auch in den Benelux-Staaten fielen reformatorische Ideen von Luther, Calvin und dem Täufer Menno Simons auf fruchtbaren Boden. Das katholische Herrscherhaus antwortete mit der Verfolgung der „Ketzer“. 1566 kam es zu Aufständen in den nördlichen Niederlanden, die in den so genannten Achtzigjährigen Krieg zwischen Spanien und den Niederlanden mündeten. Die religiösen Spannungen und Aggressionen entluden sich zunächst in einem Bildersturm. Das Herrscherhaus antwortete, indem es den spanischen Herzog Alba mit Armee und verschärfter Inquisition schickte. Seine Repressionen trieben auch die gemäßigten Niederländer in den Aufstand. In Wilhelm von Oranien fanden sie ihren Anführer. 1579 kam es schließlich zur Aufspaltung der südlichen und nördlichen Provinzen. Die sieben nördlichen Provinzen erklärten sich unabhängig von Spanien und zur ersten neuzeitlichen Republik Europas. Das war der Anfang der heutigen Niederlande. Aus den südlichen, spanisch-katholischen Provinzen entwickelten sich später das heutige Belgien und Luxemburg. So ist die Geschichte und Entstehung der heutigen Benelux-Länder aufs Engste verknüpft mit der Geschichte der Reformation.

In Deutschland selbst kam es 1546/47 zum ersten konfessionellen Krieg. 1555 schlossen dann die beiden großen Konfessionen den Augsburger Religionsfrieden. Er enthielt u.a. das ius emigrandi, das Recht, aus religiösen Gründen das Territorium zu verlassen. Es war das erste niedergeschriebene Grundrecht der deutschen Verfassungsgeschichte. Zwinglianismus, Calvinismus und Täufertum blieben jedoch weiterhin verboten. 63 Jahre später führte ein Aufstand im evangelischen Tschechien gegen den katholischen Habsburger Kaiser in den 30-jährigen Krieg. Deutschland wurde schwer verwüstet. Seine Ende fand dieser Krieg im westfälischen Frieden zu Münster und Osnabrück.

Was kann uns die Reformation heute sagen?

Die gute Nachricht zuerst: all das ist Geschichte.

Im heutigen Europa gibt es keine Religions- und Glaubenskriege mehr. Und niemand muss wegen seiner religiösen Ansichten fürchten, vom Staat oder einer Regierung verfolgt oder bedroht zu werden. Das ist zweifelsohne eine wichtige und großartige Errungenschaft.

Manche Europäer mag es überraschen, das zu betonen. Aber ein kurzer Blick in die islamische Welt genügt, um dies alles andere als selbstverständlich zu finden. In den konfessionellen Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten, in den Kämpfen zwischen Iran und Saudi-Arabien und ihren Stellvertreterkriegen sind ganz aktuell Fragen der Religion so unheilvoll mit Fragen politisch-weltlicher Macht verknüpft wie es einst in Europa der Fall war. Zu allem zusätzlichen Grauen kommt noch der ideologisch-religiös motivierte Terrorismus hinzu. Und nicht zuletzt meinen nun Islamisten mit europäischem Pass, dass sie auch schießend und mordend durch die Straßen Europas laufen oder sich in die Luft sprengen müssten, weil sie sonst nichts Besseres mit ihrem Leben anzufangen wissen.

So ist es auf der Suche nach neuen Inspirationen für einen umfassenden Frieden im Nahen und Mittleren Osten auch gar nicht so weit hergeholt, sich jenem Frieden zuzuwenden, der im Herzen Europas einst die Religions- und Stellvertreterkriege beendete und einer der herausragenden Friedensschlüsse europäischer Diplomatie wurde: der Westfälische Frieden zu Münster und Osnabrück.

Bemerkenswerterweise hat der deutsche Außenminister, ein Westfale, im Auswärtigen Amt dazu bereits „eine Werkstatt“ eingerichtet. Die Universität Cambridge wurde – trotz Brexit – als Partner gewonnen. Und die amerikanische Zeitschrift „Foreign Affairs“ wiederum hat den Westfälischen Frieden vor kurzem in einem sehr bemerkenswerten Artikel aufgegriffen. Sie finden ihn hier: “A Westphalian Peace for the Middle East“. Ohne europäische Glaubens- und Religionskriege, ohne Reformation wäre ein Westfälischer Frieden kaum notwendig gewesen.

Insofern laden 500 Jahre Reformation gerade heute zu einer Fülle hilfreicher Reflexionen und Dialoge ein: über Gemeinsamkeiten in der Geschichte Europas, über die Wiederentdeckung der eigentlichen theologischen Anliegen der Reformatoren (die in einem kurzen Artikel wie diesem nicht dargestellt werden können), über die christlichen Wurzeln Europas, über europäische Identität und Selbstverständnis, über den Wert religiöser Toleranz, über religiösen Fundamentalismus, über die Segnungen europäischer Aufklärung und der Trennung von Kirche und Staat, über einen europäischen Islam, der dem heutigen Islam die Werte europäische Aufklärung aufschließt und fruchtbar macht, über europäische Freiheitsgeschichte oder über die möglichen Erfolgsfaktoren eines großen Friedens im Nahen und Mittleren Osten.

Richtig gehandhabt und verstanden werden solche Reflexionen und Dialoge Freiheit, Frieden und Toleranz in einem politisch vereinten Europa stärken – auch wenn Briten sich gegenwärtig in einer europäischen Selbstfindungsphase befinden…

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