2016-07-04

(English version will follow during this week.)

Am 23. Juni 2016 stimmten über 17 Millionen britische Unionsbürger für ihren Austritt aus der Europäischen Union.

Hierfür sind aus meiner Sicht die folgenden Gründe ausschlaggebend gewesen.

1. Die britische Geschichte

Viele Briten scheinen eine instinktive Abneigung gegenüber politischem Einfluss vom europäischen Festland zu haben. Diese ist tief in der britischen Geschichte verwurzelt.

Diese Abneigung begann offiziell spätestens mit der Lossagung vom Papst und Rom in der Reformationszeit und der Gründung der englischen Nationalkirche 1534. Über Jahrhunderte bestand dann englische-britische Geschichte vor allem auch darin, sich gegen kriegerische Übergriffe vom Kontinent zur Wehr zu setzen, sei es gegen die spanische Armada 1588, gegen Napoleons Invasionsversuche 1804 oder gegenüber Nazideutschland 1940. Parallel zu dieser Abwehr begann die Bildung des Vereinigten Königreichs unter englischer Vorherrschaft und der Aufstieg zum britischen Empire. Unzählige Völker der Erde haben die Briten unterworfen und kolonialisiert, aber sie selbst wurden seit Beginn des letzten Jahrtausends nicht mehr unterworfen. Zugleich hat das britische Empire bei seinem Aufstieg versucht, Distanz zum Kontinent zu halten und sich vor allem daran interessiert gezeigt, das „Gleichgewicht der Kräfte“ auf dem Kontinent zu bewahren. Nicht selten hat es hierfür auch selbst Krieg gegen andere europäische Mächte geführt.

Über die letzten Jahrhunderte hat sich Großbritannien so entwickeln und „national“ behaupten können. Diese Geschichte ist Teil der Identität vieler Briten – auch wenn diese Selbstbehauptung nicht selten ohne die Hilfe anderer Völker, darunter sogar kolonialisierter, geschah.

Der einfache Slogan der Leave-Kampagne „Let’s take back control“ hat den „nationalen“ Mythos bedient, dass Großbritannien am besten gedient wäre, wenn es sein Schicksal ausschließlich selbst in die Hand nähme. Großbritannien fehlt die traumatische Erfahrung vieler Europäer, dass der Nationalismus auch tief ins Verderben führen kann.

2. Der daraus resultierende mangelnde Wille zu einer politischen Union

Wenig verwunderlich ist infolge dieser britischen Geschichte, dass Winston Churchill in seiner Züricher Rede 1946 – noch ganz in der Tradition des Britischen Empires stehend und soeben erst von der eigenen Größe durch den Sieg gegenüber Nazideutschland überzeugt – die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa forderte, ohne dabei Großbritannien einzuschließen.

So erfolgte dann der Beitritt Großbritanniens 1973 zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vor allem auch aus wirtschaftlichen Motiven. Und so wurde er auch der britischen Bevölkerung im Referendumswahlkampf von 1975 „verkauft“. Bis heute hält die britische Öffentlichkeit die Europäische Union im Wesentlichen für ein wirtschaftliches Projekt.

Margaret Thatcher hat diese britische Grundidee fortgeführt und bestärkt. Sie trat energisch für den Binnenmarkt ein, aber noch energischer lehnte sie die politische Union ab. Spätestens seit ihrer Rede 1988 in Brügge war die Verweigerung der politischen Union der Völker Europas ihre offizielle Politik: „Wir haben nicht erfolgreich die Grenzen Großbritanniens abgebaut, nur um neue auf einem europäischen Level mit einem europäischen Superstaat errichtet zu sehen, welcher eine neue Dominanz von Brüssel ausübt“, sagte sie in ihrer Rede in Brügge. Ihr berühmtes dreifaches ‚No’ im britischen Parlament im Oktober 1990 zielte genau in dieselbe Richtung. Unmittelbar vor diesem dreifachen ‚No’ bezeichnete sie die Kommission als „nicht gewählt“. Das war schon damals diffamierend gemeint, dabei hat die Art der Berufung der Kommission sehr gute historische Gründe. Aber dieses diffamierende Vorurteil hat sich bis heute in der britischen Bevölkerung gehalten, obwohl die Kommissionsmitglieder inzwischen fast so wenig und so viel direkt vom Volke gewählt werden wie ein britischer Minister.

Diese Grundidee britischer Politik ist auch die wesentliche Ursache für die unzähligen Opt-outs der Briten aus der Europäischen Union sowie ihrer Verweigerung sich an Schengen und an einer gemeinsamen europäischen Währung zu beteiligen.

So erscheinen die Briten in den Augen vieler anderer Unionsbürger inzwischen nicht zu Unrecht als unsolidarische „Rosinenpicker“, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind.

Boris Johnson hat diese Legenden im Referendumswahlkampf neu bedient. Mit perfider Demagogie hat er sie sogar verschärft, in dem er die Europäische Union nicht nur als eine Organisation „auf dem Weg zum Superstaat“ bezeichnete, sondern sie auch noch mit dem Nazireich von Hitler verglich. Ähnlich absurd ist die Verleumdung der Europäischen Union durch die Gleichsetzung mit der UDSSR, die man bei vielen Briten finden kann.

Und schließlich blieb auch der Referendumswahlkampf des Konservativen David Cameron in dieser ökonomischen Fixierung der Briten stecken. So konnte er in erster Linie nur die negativen ökonomischen Risiken eines Austritts aufzeigen und ihm fehlte entscheidend das positive politische Narrativ der Europäischen Union, welches man vielen Osteuropäern beispielsweise nicht einmal in Ansätzen erklären muss.

Dabei war die Europäische Union und ihre Vorläufer seit ihrer Geburtsstunde mit der Rede Robert Schumans ein genuin politisches Projekt. Sie war es immer und wird es immer bleiben. Die ökonomische Zusammenarbeit war und ist das entscheidende Mittel zum Zweck – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Die Europäische Union hat Europa nicht nur eine herausragend positive Zeit von Frieden, Stabilität und Wohlstand beschert, sondern sie ist nach wie vor auch die beste Versicherung aller Europäer zur Behauptung ihrer gemeinsamen Werte und Interessen im 21. Jahrhundert.

Das historische Missverständnis der Briten, die Europäische Union sei nur ein ökonomisches Projekt, kommt nun zu seinem Ende. Mit dem Ausgang des Referendums hat es seine eigenen Grenzen bewiesen.

3. Der aus beidem resultierende Mangel an europäischer Identität vieler Briten

Beides, die britische Geschichte und das Kommunikationsverhalten vieler britischer Spitzenpolitiker über Jahrzehnte hinweg, haben zu einem grundlegenden Mangel an europäischer Identität vieler Briten geführt. Für viele Briten gibt es sie selbst – als Briten. Und dann gibt es noch Europa, den Kontinent und seine Menschen. Dazwischen ist gelegentlich viel Nebel im Kanal.

Erst recht haben viele Briten große Probleme, sich mit dem Zweck und den Zielen der Europäischen Union zu identifizieren. Beredetes Zeugnis findet sich ganz besonders in den Äußerungen von Boris Johnson, der zwei Tage nach dem Referendum im Telegraph in der Überschrift seines Beitrages schrieb, er könne nicht genug betonen, wie sehr Großbritannien ein Teil Europas ist und immer bleiben wird. Das ist die Reinform des neuen britischen Egoismus und Nationalismus, der sich aus offensichtlichen faktischen Gründen zu Europa bekennt, wirtschaftlich alle Vorteile des Binnenmarktes genießen will und sich zugleich der weiteren Zusammenarbeit an der politischen Einheit der Völker Europas und der Freizügigkeit seiner Bürger verweigert.

Auch große Teile der britischen Presse fördern dieses nationale Narrativ aktiv. Nationaler Stolz wird bedient und zuletzt immer mehr auch explizite Fremdenfeindlichkeit und Rassismus.

All das ist umso erstaunlicher, da das Vereinigte Königreich selbst nichts anderes ist als eine politische Union. Noch bemerkenswerter daran ist der Umstand, dass ja die britische Union unter englischer Vorherrschaft errichtet wurde während die Europäische Union aus dem freien Entschlusse freier Völker entstanden ist. Nicht mehr überraschend ist dann, dass es viele Schotten weitaus schlimmer finden, von London aus regiert zu werden als Teil der Europäischen Union mit ihren Institutionen in Brüssel zu sein: rund eine Million Schotten haben für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt, aber 50% mehr Schotten – 1,6 Millionen – hatten im Unabhängigkeitsreferendum von 2014 für einen Austritt aus dem Vereinigten Königreich votiert.

Nichtdestotrotz: im Ergebnis haben nun Geschichte und das Verhalten zahlloser Politiker und der britischen Presse zur so genannten „euroskeptischen“ Haltung in weiten Teilen der britischen Bevölkerung geführt.

Im Extrem kommt es nun sogar zu fremdenfeindlichen Attacken von Briten auf zugewanderte polnische Unionsbürger. Diese sind umso irritierender, da es insbesondere Polen waren, die sich in der Luftschlacht gegen Nazideutschland herausragende britische Verdienste erworben haben. Solche Taten sind daher eine unglaubliche Schande für Großbritanniens Ansehen in der Europäischen Union, dessen Teil es nach wie vor ist. Sie sollten von der britischen Regierung unverzüglich stärker geahndet und öffentlich weitaus deutlicher verurteilt werden. Und die Europäische Union täte gut daran, die britische Regierung dieser Tage dazu ganz unmissverständlich, entschieden und formell aufzufordern.

4. Die jahrzehntelange Verunglimpfung der europäischen Institutionen, ihrer Repräsentanten und ihrer Mitarbeiter

Die britische Geschichte, das Kommunikationsverhalten britischer Spitzenpolitiker und der aus beidem resultierende grundlegende Mangel an Identifikation mit einem vereinten Europa haben zu einem unglaublichen Mangel an Respekt vieler Briten gegenüber den Europäischen Institutionen, ihrer Repräsentanten und ihrer Mitarbeiter geführt.

Verunglimpfungen sind heute an der Tagesordnung. Kommissare, Parlamentsabgeordnete und Mitarbeiter werden als so genannte „Eurokraten“ bezeichnet, was bewusst herabwürdigend gemeint ist, während die britische Regierung keine Gelegenheit auslässt, die Qualität ihres eigenen öffentlichen Dienstes zu loben.

Viele Probleme innerhalb der Europäischen Union werden von vielen Briten auch völlig falsch attribuiert. Oft ist es der Mangel an Einheit der 28 Nationalstaaten, der die schnelle Lösung von Problemen in der Union verhindert, nicht die Arbeit der Kommission und nicht die Arbeit des Parlaments. An diesem Mangel an Einheit hat gerade Großbritannien in der Vergangenheit einen überragenden Anteil gehabt. Und oft sind es überhaupt auch erst nationale Probleme, durch die gravierende europäische Probleme entstehen. Stellvertretend hierfür steht das große Versagen der politischen Klasse in Griechenland und ihr Mangel an Reformfähigkeit, die absurden Fehlinvestitionen in der spanischen Immobilienkrise oder der aufgeblähte Banksektor in Zypern und Irland.

Besonders beliebt bei vielen Briten ist auch das Vorurteil gegenüber der Europäischen Union sie sei so undemokratisch. Dabei hat Großbritannien selbst ein Wahlrecht, welches fast vier Millionen Wählern bei der Parlamentswahl 2015 den Gewinn von nur einem einzigen (!) der 650 Parlamentssitze im Unterhaus bescherte. Demzufolge werden derzeit fast 14% der abgegebenen Stimmen britischer Wähler lediglich durch 0,15% der Parlamentssitze repräsentiert. Die Ironie der Geschichte ist, dass die Leidtragenden die Wähler von UKIP sind. Wer zudem eine Erbmonarchin sein Staatsoberhaupt nennt, die Hälfte seines Parlaments, nämlich das britische Oberhaus, nicht vom Volke wählen lässt, sondern nur ernennt, und dabei über Jahrhunderte Zeit hatte, seine Demokratie zu entwickeln, dem stünde mehr Zurückhaltung, die Europäische Union über demokratische Legitimation belehren zu wollen, besser zu Gesicht. Er wäre vor allem gut beraten, zunächst einmal sein eigenes Wahlrecht zu reformieren.

In der Diffamierung der Europäischen Union, ihrer Repräsentanten und Mitarbeiter sind britische Spitzenpolitiker seit Jahrzehnten mit schlechtem Beispiel voran gegangen. Die britische Presse ist diesem Beispiel gefolgt und hat diese Diffamierungen immer wieder überflügelt. Heute ist sie voll von falschen Schuldzuschreibungen, Verunglimpfungen und inzwischen auch offener Fremdenfeindlichkeit.

Aus alldem spricht ein unglaublicher Mangel an Respekt und Urteilsvermögen durch viele Briten.

Seit dem 24. Juni zahlen nun bedauerlicherweise alle Briten einen sehr hohen Preis dafür.

5. Die Fehler und Versäumnisse der britischen Regierungen

Neben dem Versagen weiter Teile der politischen Klasse Großbritanniens, das Ansehen der gemeinsamen europäischen Institutionen in der eigenen Bevölkerung zu stärken und zu schützen, sind auch spezifische Fehler und Versäumnisse einer Reihe britischer Regierungen für das Referendumsergebnis mitverantwortlich.

So war es beispielsweise die britische Regierung unter Tony Blair, die 2004, als die Europäische Union zehn neue Mitgliedsländer aufnahm, keine Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit einführte, obwohl viele andere Mitgliedsländer – darunter Deutschland und Frankreich – dieses taten. Die Migration aus den neuen Mitgliedsstaaten in das Vereinigte Königreich stieg in den Folgejahren massiv an. Sie bediente den Wirtschaftsboom vor der weltweiten Finanzkrise. Sie war eine souveräne Entscheidung des Vereinigten Königreichs.

Auch ist die externe Migration von außerhalb der Europäischen Union nach Großbritannien seit Jahrzehnten größer als die aus der Europäischen Union. Obwohl die Steuerung dieser Migration fast ausschließlich in britischer Souveränität lag und bis heute liegt, haben die britischen Regierungen wenig bis gar nichts gegen sie unternommen.

Zudem zeigen die Wahlanalysen, dass vor allem die „national“ eingestellten, weniger gebildeten und älteren Wähler aus den ländlichen Regionen von England und Wales für den Austritt gestimmt haben. Großbritanniens weltoffene, städtische Zentren, für die es auf der ganzen Welt berühmt ist – wie London, Oxford, Cambridge, Liverpool und Manchester – haben überwältigend für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt.

Insofern darf man die Ergebnisse des Referendums zum Teil auch als einen Denkzettel an die politische Klasse Großbritanniens interpretieren, die ihr von denjenigen Briten gegeben wurde, die in den strukturschwachen, ländlichen Regionen von der Globalisierung weniger profitieren und die in ihren Sorgen um zu hohe Zuwanderung von der politischen Klasse zu lange allein gelassen wurden. Tragischerweise werden es voraussichtlich genau diese sein, die bei einem etwaigen Austritt aus der Europäischen Union wohl am meisten ökonomisch unter ihm zu leiden hätten.

6. Die perfide Demagogie der Leave-Kampagne

Die Leave-Kampagne hat die Angst der Menschen vor Überfremdung, vor angeblichem Kontrollverlust über das eigene Schicksal, einen weltweiten Vertrauensverlust in gesellschaftliche Eliten und die „euroskeptische“ Haltung in der britischen Bevölkerung gnadenlos ausgenutzt und bewusst weiter geschürt.

Eine Woche vor dem Referendum zeigte sich Nigel Farage vor einem riesengroßen Poster mit der Aufschrift „Breaking Point“. Der offene Rassismus, der aus dieser Aktion sprach, ist zum Sinnbild der Kampagne geworden. Nur wenige Stunden später wurde er auf den sozialen Medien durch einen Vergleich mit einem Nazi-Propaganda-Film entlarvt.

Mit dreisten Behauptungen und Lügen hat die Leave-Kampagne für sich geworben. Die inzwischen schon berüchtigte Lüge der 350 Millionen Pfund, die Großbritannien angeblich wöchentlich an die Europäische Union überweisen würde und die den Kampagnen-Bus von Boris Johnson zierte, steht stellvertretend hierfür. Auch die Milchmädchenrechnung, dass das Geld bei einem Austritt für den nationalen Gesundheitsdienst zur Verfügung stünde, ist angesichts der gigantischen Wertvernichtung des britischen Pfundes und der Ankündigung von Steuererhöhungen wenige Tagen nach dem Referendum bereits deutlich geworden.

Ergänzend hierzu haben die Köpfe der Leave-Kampagne schwierige und komplexe Fragen vom Tisch gewischt. Die Aussage Michael Gove’s, dass Großbritannien genug Expertenrat gehabt hätte, ist bezeichnend hierfür. Ebenso sein diffamierender Vergleich von ökonomischen Experten mit vermeintlichen Nazi-Experten, die einst Albert Einstein zu widerlegen versuchten. Er gab damit nicht nur denjenigen, die sich von Komplexität überfordert fühlen, ein gutes Gefühl, sondern nutzte so auch den großen Vertrauensverlust in die gesellschaftlichen Eliten aus.

Angesichts eines derartigen Kampagnenniveaus ist es dann kein Wunder, dass die Leave-Kampagne vor allem Stimmen bei tendenziell älteren, schlechter ausgebildeten und „national“ eingestellten Menschen gewinnen konnte, während die gebildeten, dynamischen weltoffenen Zentren und junge Briten in überwältigendem Maße für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt haben. Bestätigt wird dieses auch durch die Ergebnisse eines der führenden Meinungsforschungsinstitute von Großbritannien, das nur wenige Tage vor der Abstimmung veröffentlichte, wie wenig die Briten eigentlich über die Europäische Union und Schlüsselfragen der Referendumskampagne wissen.

Nicht unerwähnt bleiben darf, dass Nigel Farage, Boris Johnson und Michael Gove mit ihrer Kampagne und gemeinsam mit Teilen der britischen Presse ein gesellschaftliches Klima erzeugt haben, das wesentlich für den Tod an Jo Cox mitverantwortlich ist wie auch für den Ausbruch fremdenfeindlicher Gewalt auf den Straßen Großbritanniens in den letzten Tagen.

Mit all dem haben sie dem Ansehen Großbritanniens unermesslichen Schaden zugefügt. Es disqualifiziert sie für jedes öffentliche Amt ernstzunehmender, politischer Führung innerhalb der Europäischen Union. Der Brutus der britischen Politik, Boris Johnson, wurde vor wenigen Tagen bereits von seinem eigenen Mitstreiter Michael Gove politisch erdolcht. Und glaubt der neue Brutus Michael Gove nun tatsächlich er könne britischer Premierminister werden? Bereits jeder weitere Tag, den Michael Gove britischer Justizminister ist, fügt dem Ansehen des Vereinigten Königreichs, seiner Regierung und seinem Justizsystem weiteren schweren Schaden zu. Und Nigel Farage’s erbärmliche Existenz wird jedes Mal hinlänglich dokumentiert, wenn er das Europäische Parlament betritt: ein Mann, der es mehrmals nicht schaffte, einen Sitz im britischen Parlament zu erobern, ist sich nicht zu schade, seit Jahren auf Kosten des europäischen Steuerzahlers zu leben und seinen Fuß über die Schwelle jenes Hauses zu setzen, das er für alle Briten so gerne abschließen möchte.

7. Die strategischen Fehler der IN-Kampagne

Die offizielle IN-Kampagne hingegen – und vor allem David Cameron selbst – haben sich vor allem darauf konzentriert, den Briten die wirtschaftliche Nachteile eines etwaigen Austritts aufzuzeigen. Es mangelte ihnen grundlegend an einer positiven, zukunftsfähigen Vision Großbritanniens innerhalb der Europäischen Union. So konnten sie maximal nur für den Status Quo werben, – lediglich verbessert um die Beschlüsse des Europäischen Rates vom 18. und 19. Februar, die in ihrer faktischen Bedeutung für viele Briten viel zu kurz gegriffen waren. Damit verblieb die IN-Kampagne in den historischen Begrenzungen eines Großbritanniens, das aus wirtschaftlichen Gründen in die Europäische Union eingetreten ist und sich einer politischen Union der europäischen Völker bis heute verweigert. Zugleich erlaubten sie damit der Gegenseite, den Vorwurf der so genannten „Projekt-Angst“ erheben zu können.

Hinzu kam, dass Cameron nicht öffentlich machte, dass er den Ausgang des Referendums mit seiner persönlichen Zukunft verbinden würde. Nach den diversen Reaktionen britischer Bürger unmittelbar nach seinem Rücktritt zu urteilen, ist es nicht abwegig anzunehmen, dass bei einer Vorabankündigung seines Rücktritts im Falle einer Niederlage einige Briten mehr für einen Verbleib in der Europäischen Union gestimmt hätten.

8. Die Versäumnisse der Europäischen Union und ihrer Bürger

Auch die politisch Verantwortlichen, die Medien und die Zivilgesellschaft in der Europäischen Union haben ihren Teil zum britischen Ergebnis beigetragen. Sie sind viel zu spät aufgewacht.

So machte beispielsweise in Deutschland der SPIEGEL den Brexit erst am 11. Juni, ganze 12 Tage vor dem Referendum, zu seiner Titelgeschichte und warb mit dem Slogan „Please don’t go“ für den Verbleib der Briten in der Union. Erst dann wurde plötzlich das Thema in den deutschen Medien akut und ausführlich berichtet. Auch gab es zu ähnlichen Zeitpunkten erst Aktionen in anderen Ländern. Da aber war es schon zu spät, wie wir heute wissen.

Zu nennenswerten Meldungen von Prominenten aus der Europäischen Zivilgesellschaft kam es kaum. Wenige europäische Fußballer und Trainer, die in der Premier League spielen, äußerten sich und wenn dann nicht sonderlich vernehmbar. Kaum prominente Musiker, Schauspieler, Schriftsteller, Wissenschaftler, Künstler aus ganz Europa, die sich einzeln oder gemeinsam zu Wort gemeldet hätten.

Auch gab es keine Initiative der 27 Parlamente der Europäischen Union, für einen Verbleib der britischen Mitbürger in der Union zu werben.

Dabei liegt der Verbleib der Briten im grundlegenden Interesse der Union. Und das gilt insbesondere auch für Deutschland. Jedoch wandte sich selbst der deutsche Bundespräsident nur ein einziges Mal deutlich vernehmbar an alle Briten: vor ganzen drei Jahren im Rahmen seiner Rede zur Zukunft der Europäischen Union.

Vermutlich stand hinter dem Mangel an Initiative bei Vielen auch die Angst, sich in die so genannten inneren Angelegenheiten eines Mitgliedsstaates einzumischen – eine überholte und falsche Vorstellung einer echten gemeinsamen politischen und gesellschaftlichen Union der Völker Europas.

Und schließlich haben vor allem die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union durch ihre Uneinigkeit in der Bewältigung der Flüchtlingskrise maßgeblich dazu beigetragen, dass vielen Briten das Vertrauen in ihre gemeinsame Lösungskompetenz – vor allem beim Thema Migration – verloren ging. Auch die Beschlüsse vom Gipfel am 18. und 19. Februar mit dem Vereinigten Königreich gingen zu wenig auf den Kern des Problems der Migration nach Großbritannien aus anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ein.

Ein Zwischenfazit

Die politischen Folgen des Ergebnisses des Referendums vom 23. Juni 2016 sind schon heute verheerend für Großbritannien. Aus persönlichen Machtmotiven heraus haben David Cameron, Boris Johnson, Nigel Farage und Michael Gove Großbritannien in das größte politische Desaster seit der Suezkrise 1956 geführt. Der Machtkampf um die Nachfolge des Premierministers ist voll entbrannt. Die wichtigste Oppositionspartei, die britische Labour, zerlegt sich derweil selbst. Westminster ist zu einem Drama mit Shakespeare’schen Ausmaßen geworden. Für ihre eigenen Bürger geben große Teile der politischen Klasse Großbritanniens derzeit ein erschütterndes Bild ab. Es gibt zur Zeit keine klare und wirklich überzeugend legitimierte Führung des Vereinigten Königreichs. Und sogar die Existenz des Vereinigten Königreichs selbst steht auf dem Spiel.

Ökonomisch sind die Folgen noch nicht richtig abzuschätzen, aber auch sie sind schon heute gravierend. Das britische Pfund ist abgestürzt, das lange gepflegte Triple-A-Rating entzogen und Steuererhöhungen sind angekündigt. Der Gouverneur der Bank of England hat Zinssenkungen für den Sommer als wahrscheinlich bezeichnet. Das Investitionsverhalten ist bereits vor dem Referendum zurückgegangen und das Verbrauchervertrauen ist schon jetzt deutlich gesunken.

Gesellschaftlich sind große und tiefe Risse in der britischen Gesellschaft offenkundig geworden: Schotten und Nordiren wollen mehrheitlich in der Europäischen Union verbleiben. Ähnlich haben die weltoffenen städtischen Zentren und die überwältigende Mehrheit der jungen Briten gestimmt. Die Austrittsbefürworter kann man nicht wirklich als einen Springbrunnen der Jugend, der Zukunft und Hoffnung Großbritanniens bezeichnen. Und für viele Briten kommen nun eine unmittelbare, persönliche Unsicherheit ihrer eigenen Lebenspläne und die Unsicherheit ihrer Arbeitsplätze neu hinzu.

Nichts davon ist gut für Großbritannien und nichts davon ist gut für die Europäische Union. Und es wird viel Zeit und Energie kosten, diese Wunden wieder zu heilen, wenn es denn überhaupt mehrheitlich gewollt sein wird.

Gleichwohl: 17 Millionen mündige britische Bürger haben sich am 23. Juni für den Austritt aus der Europäischen Union entschieden. Sie sind selbst dafür verantwortlich, wenn sie Demagogen und Lügnern irrigerweise ihre Stimme geben oder eben aus tiefer, innerer Überzeugung für die Unabhängigkeit ihres Landes votiert haben. Ihre Stimmen sind zu respektieren. Sie repräsentieren zwar nur etwas mehr als ein Viertel der britischen Gesamtbevölkerung, aber dennoch haben sie das Referendum nach den gegebenen Regeln klar gewonnen. Es scheint daher zur Zeit schwer vorstellbar, dass Artikel 50 nicht aktiviert wird und eine neue Regierung den Austritt nicht formal beantragt. Allerdings dürfte das Austrittsabkommen aus der Europäischen Union vom britischen Parlament ratifiziert werden müssen. Dieses wiederum dürfte angesichts der Komplexität und Umfangs der Verhandlungen kaum vor 2018 geschehen können. Bis dahin kann viel passieren. Insofern ist die politische Zukunft Großbritanniens eigentlich noch ungewisser als vor dem Referendum.

Alle Briten, die für einen Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union gestimmt haben, sollten die Hoffnung daher nicht aufgeben. Denn so wie man ein Land aus der Europäischen Union heraus führen kann, so kann man es schließlich auch wieder zurück in die Europäische Union führen. Spätestens die neuen Unterhauswahlen 2020 würden dazu einladen. Und noch hat Großbritannien ja nicht einmal den Austrittsprozess formal initiiert.

Allerdings gäbe es eine entscheidende Hürde auf dem Weg zum Verbleib in der Europäischen Union.

Anders als es das knappe Gesamtergebnis von 48 zu 52 suggeriert, scheinen tiefe Risse durch die britische Gesellschaft bezüglich ihrer europäischen Identität und ihrer Zugehörigkeit zu einem politisch vereinten Europa zu gehen.

Entscheidend für einen Verbleib Großbritanniens in die Europäische Union wäre daher die Entwicklung einer konstruktiveren und positiveren Sicht auf die Europäische Union, ihre Institutionen und die gemeinsame politische Zukunft der europäischen Nationen. Die Briten müssten sich der Europäischen Idee neu öffnen. Die Union ist mehr als eine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung. Sie ist nicht auf den Binnenmarkt zu reduzieren und in ihren Beschlüssen ist sie schon heute weit demokratischer als viele Briten meinen.

Ein Verbleib Großbritanniens müsste vom Willen einer Mehrheit der Briten getragen werden, die politische Einheit und die gemeinsame Zukunft überzeugend mitgestalten zu wollen. Und es bräuchte glaubhafte, intelligente und integre politische Führer aus Großbritannien, die diese Mehrheit repräsentieren. Alles andere wäre ein erneutes Missverständnis. Nur wenn die Mehrheit der Briten begreift, dass die gemeinsamen europäischen Institutionen nicht gegen sie gerichtet sind, sondern vielmehr Teil ihrer selbst sind und in ihrer Unvollkommenheit dazu da sind, gemeinsam immer vollkommener entwickelt und immer besser demokratisch legitimiert zu werden, macht ein Verbleib der Briten in der Europäischen Union Sinn. Und wohl erst dann werden viele Briten in der Lage sein, denjenigen Europäern angemessenen Respekt entgegen zu bringen, die ihr Leben dieser Aufgabe gewidmet haben.



Wie die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten nun am besten mit dem britischen Votum umgehen können, wird Gegenstand des nächsten Artikels sein.

P.S. Sie finden mich auf Twitter unter OliHSchmidt oder auf Facebook ebenfalls unter OliHSchmidt.

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