2016-11-04

Freitag, 04.11.2016

05:54 Uhr

In welcher Lebensphase kommen Wissenschaftler normalerweise auf ihre besten Ideen? Der Medientheoretiker Friedrich Kittler hatte auf diese Frage eine einfache Antwort: Während ihrer postpubertären Askese.

“Als Mann ist man heute mit 13 imstande, ein Kind zu zeugen. In meiner Generation schlief man erst mit 20 oder 21 mit der ersten Frau.” In den Jahren dazwischen habe man seine schlagenden Ideen gehabt, sagte Kittler kurz vor seinem Tod 2011. Danach komme nicht mehr allzu viel.

Umgekehrt ließe sich vermuten, dass wissenschaftliche Exzellenz mit zunehmendem Alter steigt – erst gegen Ende der Karriere weiß ein Forscher so viel, dass er etwas wirklich Neues beitragen kann.

Keinerlei Regeln

Ganz so einfach ist es jedoch nicht. Die Netzwerk-Forscher um Roberta Sinatra von der Northeastern University in Boston haben mehr als eine halbe Million wissenschaftliche Aufsätze oder Bücher von Physikern, Biologen, Chemikern, Neurowissenschaftlern, Ökologen und Ökonomen analysiert und ausgewertet, wie oft andere Wissenschaftler diese zitiert haben. Der Gedanke dahinter: Je öfter ein Werk zitiert wird, desto wichtiger ist es.

Dann betrachteten Sinatra und ihre Kollegen, zu welchem Zeitpunkt in der Karriere des Autors sein meistzitiertes Werk entstanden ist und suchten nach einem Muster. Und siehe da: Es gibt keins. Das Alter hat offenbar keinen Einfluss auf den Zeitpunkt des Geniestreichs.

Fenn war 71

Der Physik-Nobelpreisträger Frank Wilczek etwa schrieb sein 2004 ausgezeichnetes Werk über Quarks zu Beginn seiner Laufbahn 1973. Es war seine erste Veröffentlichung – da war er gerade mal 22 Jahre alt.

Getty Images/ SPIEGEL ONLINE

Jung und Alt: Die Nobelpreisträger Frank Wilczek (l.) und John Fenn leisteten in ganz unterschiedlichen Lebensphasen Großartiges.

Umgekehrt war der Biologe John Fenn schon 71 Jahre alt, als er seine nobelpreisgekrönte Studie zu schwebenden Proteinen veröffentlichte – danach folgten nicht mehr allzu viele Aufsätze.

Andere Wissenschaftler liefern in der Karriere-Mitte ihre besten Arbeiten ab. Dieses Ergebnis gilt auch für frühere Jahrzehnte und unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen, unabhängig davon, ob die Wissenschaftler alleine oder im Team forschen.

Die Zahl der Veröffentlichungen allein bedeutet nicht viel

Zudem untersuchte das Team um Sinatra, welche Faktoren für wirklich bedeutende Aufsätze entscheidend sind. Dazu analysierten sie die meistzitierten 5 Prozent der Beiträge, also das beste Zwanzigstel. Die erste Vermutung war, dass Fleiß eine wichtige Rolle spielt: Wer viel veröffentlicht, hätte demnach eine bessere Chance, einen Durchbruch zu landen. Doch es gibt nur einen sehr schwachen Zusammenhang: Das Prinzip Schleppnetzfischen allein funktioniert offenbar nicht.

Viel bedeutender als die bloße Quantität seien laut den Rechenmodellen zwei andere Faktoren. Den ersten nennen die Netzwerk-Forscher “Parameter Q”: Q ist für jeden Wissenschaftler bestimmbar und zeigt seine Fähigkeit, bestehendes Wissen weiterzuentwickeln. Q bleibt über die gesamt Karriere mehr oder weniger konstant. Der Parameter ist ein wichtiger Teil des von den Forschern entwickelten Modells zur Vorhersage wissenschaftlichen Erfolgs.

Was ist der Q-Parameter?

Ein Wissenschaftler mit niedrigem Q kann so viel publizieren, wie er will – ein bedeutender Beitrag wird ihm höchstwahrscheinlich trotzdem nicht gelingen. Wer einen hohen Q-Parameter aufweist, hat höhere Chancen, einen wissenschaftlichen Durchbruch zu schaffen. Q lässt sich für jeden Forscher aus seiner Publikationshistorie berechnen.

Das einzige Problem: Noch weiß niemand, wovon der Q-Parameter abhängt. Ist es Talent? Intelligenz? Die Ausbildung? Die Netzwerk-Forscher haben keine einfache Erklärung. Trotzdem trauen sie der Kennzahl zu, in Zukunft wissenschaftliche Karrieren vorherzusagen.

Eine Garantie ist ein hoher Q-Parameter freilich nicht. Der zweite und noch wichtigere Faktor ist nämlich: Glück.

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