2016-04-03

Auch wenn derzeit vor allem hinter den Kulissen gesprochen wird: Die Verhandlungen über die Kredite für Griechenland sind noch nicht abgeschlossen. Am Samstag veröffentlichte die Enthüllungsplattform Wikileaks die Mitschrift einer internen Telefonkonferenz des Internationalen Währungsfonds (IWF). In dem Gespräch der ranghohen IWF-Mitarbeiter wird deutlich, wie zerstritten die Geldgeber untereinander sind und wie weit eine wirkliche Lösung für Griechenland noch entfernt ist. (Lesen Sie hier unsere Analyse).

Der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis fühlt sich an die Zeit von vor gut einem Jahr erinnert, als er auf griechischer Seite mit IWF, EU-Kommission und Euro-Ländern über Kredite für sein insolventes Land verhandelte. In seinem Gastbeitrag, den SPIEGEL ONLINE veröffentlicht, befürchtet er einen Showdown zwischen Griechenland und den Geldgebern im Sommer.

Zur Person

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Yanis Varoufakis, Jahrgang 1961, war von Januar bis Juli 2015 Finanzminister der griechischen Syriza-Regierung. Der Ökonomieprofessor hat zuvor in Athen, Austin und Sydney unterrichtet.

Seit das erste griechische Rettungsprogramm im Mai 2010 beschlossen wurde, hat der Internationale Währungsfonds (IWF) seine eigene oberste Regel gebrochen: keine insolventen Staaten zu finanzieren. Die IWF-Führung erlebt seither einen Aufstand ihrer Mitarbeiter, die auf eine Exit-Strategie pochen. Wenn die EU der griechischen Regierung den notwendigen Schuldenerlass weiterhin verweigert, so argumentieren sie, sollte der IWF aus dem Rettungsprogramm aussteigen.

Sechs Jahre später dauert diese Hängepartie zwischen IWF und EU an. Das griechische Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist um ein Drittel zurückgegangen, die Hoffnungslosigkeit so groß, dass echte Reformen schwieriger sind denn je.

Ich habe Poul Thomsen, den Europa-Chef des IWF, im Februar 2015 in einem Pariser Hotel kennengelernt – kurz nachdem ich griechischer Finanzminister wurde. Er schien noch stärker daran interessiert als ich, einen Schuldenerlass durchzusetzen. “Mindestens 54 Milliarden Euro der griechischen Schulden, die nach dem ersten Rettungsprogramm noch übrig waren, sollten sofort abgeschrieben werden”, sagte er. “Im Austausch für ernsthafte Reformen.”

Das war Musik in meinen Ohren, ich wollte gern über “ernsthafte Reformen” reden. Doch die Diskussion kam nie in Gang, weil der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble jegliche Diskussion über Schuldenerleichterungen unterband.

Die Sicht des IWF auf die griechische Krise

Was erfahren wir nun Neues über diese Saga aus dem geleakten Dialog zwischen Thomsen und Delia Velculescu, der IWF- Repräsentantin Griechenland? Aus Sicht des IWF stellt sich die Lage derzeit wie folgt dar:

Die EU-Kommission hofft auf eine weitere Scheinlösung bei der IWF-Frühjahrstagung Mitte April, so dass die EU-Regierungschefs (wieder mal!) das Ende der griechischen Krise feiern können.

Der IWF wird dieses verhindern, weil er nicht mehr bereit ist, eine weitere Scheinlösung mitzutragen, die gegen seine oberste Regel verstößt

Die griechische Regierung ist bereit, sich neuen Sparforderungen des IWF zu unterwerfen. Diese betragen 2,5 bis 3 Prozent des BIP. Darunter sind Rentenkürzungen, höhere Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel und Gehaltskürzungen im öffentlichen Sektor. Zusagen will sie aber noch nicht machen, weil die EU-Kommission noch ein “sanfteres” Sparpaket in Aussicht stellt. Hierbei handelt es sich um ein falsches Versprechen.

Der IWF ist wütend auf die Kommission, weil die EU-internen Prognosen auf noch härtere Maßnahmen für die Zukunft hindeuten als die des IWF.

Der IWF bereut, keine gemeinsame Position mit der Kommission festgelegt zu haben, bevor die Kommission begann, die Griechen in die Irre zu führen.

Um die Europäer zu einer Entscheidung zu zwingen, muss Griechenland erst wieder am Abgrund stehen (d.h. kurz vor der Zahlungsunfähigkeit).

Wegen des britischen EU-Referendums am 23. Juni schätzt der IWF, dass der Schuldenstreit mit der Kommission bis Juli ausgesetzt wird. Danach wird, wie im vergangenen Jahr, wieder eine “Griechenland-Krise” drohen.

Der IWF plant dann im Juli, Kanzlerin Merkel in die Enge zu drängen. Sie soll gezwungen werden zu wählen, was politisch weniger kostet: Das griechische Rettungsprogramm fortzuführen, aber ohne Beteiligung des IWF? Oder dem griechischen Staat einen erheblichen Schuldenerlass zu gewähren?

Solange Merkel eine dieser beiden Optionen wählt, ist der IWF fein raus: Entweder er verlässt das Rettungsprogramm, oder die Grundlage des Rettungsprogramms wird durch den Schuldenerlass so verändert, dass es nicht mehr gegen die oberste IWF-Regel verstößt.

Für den Laien sieht es so aus, als drehe sich der Streit zwischen IWF und EU-Kommission nur um einige gepfuschte Zahlen. Aber der Hintergrund ist zutiefst politisch und hat Auswirkungen über Griechenland hinaus.

Der IWF hat Recht: Die Kommissionszahlen gehen nicht auf. Es ist Heuchelei, wenn die Kommission so tut, als wolle sie ein “Sparpaket light”, während ihr Nein zu einem Schuldenerlass bedeutet, dass die griechische Regierung im Haushalt einen Primärüberschuss von 3,5 Prozent der Wirtschaftsleistung erzielen muss. Das bedeutet noch härteres Sparen.

Die schlechte Rechenkunst der Kommission hat politische Gründe: Bei einer Korrektur müsste Merkel zugeben, 2010 im Bundestag ein unhaltbares Versprechen gegeben zu haben: dass das insolvente Griechenland jeden Cent mit Zinsen zurückzahlen würde. Dieses Eingeständnis wäre heute politisches Gift für die angeschlagene Kanzlerin.

Sind die IWF-Zahlen besser? Thomsen und Velculescu sprechen sich für genau das Ziel aus, das ich vergangenes Jahr der Troika vorgeschlagen hatte: einen Primärüberschuss von 1,5 Prozent.

Ein unmenschliches, unnötiges Sparprogramm

Warum hat der IWF mich 2015 nicht unterstützt, aber fordert nun die gleiche Zahl von 1,5 Prozent? Weil sie etwas wollten, was ich nie erlaubt hätte: ein unmenschliches, unnötiges Sparprogramm, welches die Tsipras-Regierung heute zu akzeptieren bereit scheint.

Das IWF-Paket ist unmenschlich, weil es Hunderttausende kleine Unternehmen zerstören und die humanitäre Krise verstärken wird. Meiner Meinung nach ist es auch unnötig, weil Griechenland zu Wachstum zurückkehren könnte, indem es die Oligarchen ins Visier nimmt und die öffentliche Verwaltung reformiert.

Ein monströs übertriebener aber ungeheuer aufschlussreicher Vergleich der IWF-Logik ginge so: Würde Griechenland mit Atomwaffen bombardiert, wäre die Wirtschaftskrise damit auch beendet und die Zahlen wieder “in Ordnung”, so lange die Geldgeber einen kompletten Schuldenschnitt akzeptieren. Wenn ich aber recht habe und Griechenland auch ohne weiteren gesellschaftlichen Niedergang wieder auf die Beine kommen kann – warum hat der IWF sich 2015 mit der deutschen Bundesregierung verbündet um uns zu brechen?

Jahrzehntelang hat der IWF in jedem Land, in dem er “gastierte”, “Reformen” vorangetrieben, die kleine Betriebe zerstörten und die Mittelschicht proletarisierten. Würde der IWF dieses Schema in Griechenland aufgeben, müsste er zugeben, dass die anti-sozialen Programme, die er Jahrzehntelang Ländern auf der ganzen Welt auferlegt hat, möglicherweise unmenschlich und unnötig waren.

Ein Zermürbungskrieg ist in Gang

Die Wikileaks-Veröffentlichung zeigen, dass es einen Zermürbungskrieg gibt – zwischen einem einigermaßen rechenkundigen Bösewicht (der IWF) und einem chronischen Zauderer (Deutschland). Sie zeigen auch, dass der IWF ernsthaft darüber nachdenkt, die Dinge im Juli zu einer Entscheidung zu bringen, indem er Griechenland wieder einmal an den Rand des Abgrunds bringt – genau wie im Juli 2015.

Mit einer Ausnahme: Dieses Mal soll nicht Alexis Tsipras in Zugzwang gebracht werden, sondern die deutsche Bundeskanzlerin.

Wird Christine Lagarde, IWF-Chefin mit Ambitionen auf ein politisches Comeback in Europa der Linie ihrer Untergebenen folgen? Wie wird Kanzlerin Merkel auf die Veröffentlichung reagieren? Könnten die Protagonisten ihre Strategien ändern, jetzt da wir einen Einblick gewonnen haben?

Während ich über diese Fragen sinniere, überkommt mich ein Schwall von Trauer: Im vergangenen Jahr, während unseres Athener Frühlings, hatte Griechenland wenigstens die Waffen gegen die organisierte Inkompetenz der Troika. Nur durfte ich sie leider nicht einsetzen. Das Ergebnis: Europa ist immer stärker in Verruf geraten und das griechische Volk kann nur stumm zuschauen, wie seine trostlosen Aussichten immer schwärzer werden.

Die Chronik der Griechenlandkrise

Am 1. Januar 2001 tritt Griechenland der Eurozone bei. Bei der Einführung des Euro 1999 war das Land noch nicht dabei. Erst im Jahr 2000 erfüllte es die sogenannten Konvergenzkriterien des Maastrichter Vertrages – zumindest auf dem Papier.

Im November 2004 wird klar: Die Regierung in Athen hat sich die Aufnahme in die Eurozone mit gefälschten Finanzdaten erschummelt. Alle Haushaltsdefizite vergangener Jahre waren in Wahrheit deutlich höher als zuvor an Brüssel gemeldet. So übertrafen die neuen Schulden in jedem Jahr die im Stabilitätspakt erlaubte Obergrenze von drei Prozent der Wirtschaftsleistung. Langjähriger Berater der Griechen war die US-Investmentbank Goldman Sachs.

Ende Oktober 2009 zeichnet sich zum ersten Mal so etwas wie eine Griechenland-Krise ab. Das voraussichtliche Haushaltsdefizit liegt bei rund 12,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, doppelt so hoch wie zunächst angenommen. Die neue Regierung von Ministerpräsident Giorgos Papandreou kündigt Sparmaßnahmen an.

Mitte Dezember 2009 stuft die Rating-Agentur Standard & Poor’s Griechenlands Kreditwürdigkeit herab. Zuvor hatte dies schon die Agentur Fitch getan. Warnungen vor einer drohenden Staatspleite werden lauter. Der Kurs des Euro bricht ein. Bundeskanzklerin Angela Merkel beschwichtigt: “Ich bitte im Interesse einer sachlichen Diskussion, das nicht überzubewerten.”

Im Frühjahr 2010 wird es eng: Griechenland bekommt nur noch sehr schwer Geld an den Finanzmärkten. Die Eurostaaten und der Internationale Währungsfonds (IWF) springen dem Land bei. Anfang Mai schnüren sie ein Rettungspaket mit Krediten über 110 Milliarden Euro, 30 Milliarden davon übernimmt der IWF, auf Deutschland entfallen 22,4 Milliarden Euro. Die Bundesregierung peitscht das Gesetz im Eilverfahren durch den Bundestag. Die Geldgeber sehen die Griechen-Krise offenbar als temporäres Problem: Die Laufzeit der Kredite beträgt nur drei Jahre. Kurz darauf geraten auch andere Länder wie Irland und Portugal ins Wanken.

Ein Jahr später spitzt sich die Schuldenkrise erneut zu. Weil absehbar ist, dass Griechenland sich nicht wie geplant bereits 2012 am Kapitalmarkt finanzieren kann, braucht es mehr Geld von den Staaten der Eurozone und dem Internationalen Währungsfonds. Am 10. Mai 2011 kündigt die griechische Regierung ein neues Sparpaket an. Wenige Tage später legen gewaltsame Demonstrationen Teile des Landes lahm. Die Polizei muss das Parlament gegen wütende Bürger verteidigen. Sie feuert Tränengas, Demonstranten werfen Steine zurück, attackieren die Limousine von Ministerpräsident Papandreou.

Zweites Rettungspaket, erster Versuch: Ein Sondergipfel der Eurostaaten beschließt am 21. Juli 2011 ein neues Hilfspaket für Griechenland mit einem Volumen von 109 Milliarden Euro. Der Großteil des Geldes soll aus dem europäischen Rettungsschirm EFSF und dem Internationalen Währungsfonds kommen. Erstmals sollen aber auch private Gläubiger beteiligt werden – auf freiwilliger Basis.

Ende Oktober 2011 legt die Troika aus EU, IWF und Europäischer Zentralbank (EZB) einen neuen Bericht zur Finanzsituation Griechenlands vor. Die Experten zeichnen darin ein düsteres Bild: Die Lage des Landes hat sich in den vorangegangenen Monaten weiter verschlechtert. Auf einem EU-Gipfel am 26. Oktober schmieden die Staats- und Regierungschefs einen neuen Rettungsplan: Private Gläubiger sollen auf mehr als 50 Prozent ihrer Forderungen gegenüber Griechenland verzichten. Das trifft vor allem europäische Banken. Athen soll weitere 100 Milliarden Euro erhalten, mit zusätzlichen 30 Milliarden Euro soll der Schuldenschnitt abgesichert werden.

Turbulente Herbsttage: Am 31. Oktober kündigt Griechenlands Ministerpräsident Papandreou überraschend eine
Volksabstimmung über die Beschlüsse des Eurogipfels und die damit verbundenen Sparauflagen für sein Land an. Beim G20-Gipfel in Cannes nehmen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy Papandreou Anfang November ins Gebet. Daraufhin lässt dieser den Referundumsplan fallen und tritt zurück. Loukas Papademos, der Ex-Vizepräsident der Europäischen Zentralbank, tritt am 11. November 2011 an die Spitze einer Übergangsregierung.

Im Februar 2012 stimmt das griechische Parlament einem neuen Sparprogramm zu. In Athen kommt es zu gewalttätigen Ausschreitungen. Die internationalen Geldgeber hatten auf verschärfte Reformen gepocht – im Gegenzug verabschieden die Euro-Finanzminister das zweite Rettungspaket. Neben dem Schuldenschnitt für die privaten Gläubiger enthält es auch die im Oktober angekündigten Hilfen in Höhe von 130 Milliarden Euro. Für die Kredite aus dem ersten Hilfspaket von 2010 werden die Zinsen halbiert. Der Schuldenschnitt wird am 9. März 2012 wirksam.

Bei der Parlamentswahl am 6. Mai 2012 strafen die Griechen die Traditionsparteien Nea Dimokratia (ND) und Pasok ab, die aus ihrer Sicht das Land einem internationalen Spardiktat unterworfen haben. Parteien wie Syriza, die eine Aufkündigung der Sparvereinbarungen fordern, legen kräftig zu. Eine Regierungsbildung scheitert. Nach der Neuwahl am 17. Juni wird ND-Chef Antonis Samaras als Ministerpräsident vereidigt. Unterstützt wird seine Regierung von Pasok und der demokratischen Linken (Dimar). Das bei den Wahlen zweitplatzierte Linksbündnis Syriza ist jedoch nicht beteiligt.

Die Lage an den Finanzmärkten spitzt sich im Sommer 2012 wieder zu. Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler sinniert über einen Austritt Griechenlands aus der Eurozone. Der Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi erklärt am 26. Juli, die EZB werde “alles Notwendige tun, um den Euro zu erhalten” – und leitet damit eine Wende in der Eurokrise ein. Von nun an schwindet die Angst davor, dass die griechische Krise auch Länder wie Italien oder Spanien anstecken könnte.

Am 8. Oktober 2012 besucht Angela Merkel zum ersten Mal seit Ausbruch der Krise Griechenland. Sie lobt die Fortschritte des Landes. Der IWF dagegen glaubt nicht, dass Griechenland den Sanierungszeitplan einhalten kann. Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble tritt Spekulationen über einen Euro-Austritt Griechenlands entgegen. Dabei gelingt ihm ein legendärer Satz auf Denglisch: “I think there will be no Staatsbankrott in Greece.”

Griechenland erhält weitere Zugeständnisse: Am 27. November 2012 einigt sich die Euro-Gruppe mit dem IWF auf eine Anpassung des zweiten Rettungspakets: Die Regierung in Athen soll mehr Zeit für die Umsetzung der Sparvorgaben bekommen. Daraus ergibt sich eine Finanzlücke von 14 Milliarden Euro, die unter anderem mit günstigen Zinsen auf bereits gewährte Kredite gestopft werden soll.

Im Juni 2013 räumt der Internationale Währungsfonds (IWF) Fehler bei der Rettungspolitik ein. Beim ersten Hilfsprogramm aus dem Mai 2010 habe man zu optimistische Annahmen zugrunde gelegt. Weder der Schuldenstand noch das Wachstum hätten sich so entwickelt wie damals angenommen. Die griechische Wirtschaft schrumpft 2013 das fünfte Jahr in Folge. Seit 2008 ist das Bruttoinlandsprodukt um gut 22 Prozent eingebrochen, die Staatsverschuldung ist wieder höher als vor dem Schuldenschnitt.

2014 scheint die jahrelange Talfahrt endlich zu Ende zu gehen. Die griechische Regierung erwartet sogar ein kleines Wirtschaftswachstum – und wird forsch: Anfang April leiht sich das Land erstmals seit vier Jahren wieder langfristig Geld am Kapitalmarkt. Die Investoren sind begeistert – und geben den Griechen drei Milliarden Euro zu 4,75 Prozent Zinsen.

Ende 2014 laufen die Hilfen der Europartner für Griechenland aus – und Ministerpräsident Antonis Samaras wird nicht müde zu betonen, dass kein neues Geld nötig sei. “Die Ära der Rettungspakete geht zu Ende”, jubelt er. Ende November meldet der SPIEGEL, es werde wohl doch ein weiteres Hilfspaket geben. Zehn Milliarden Euro aus dem Rettungsfonds ESM sollten umgewidmet werden.

Am 29. Dezember 2014 scheitert die Wahl des Staatspräsidenten im dritten Wahlgang – die griechische Verfassung sieht für diesen Fall Neuwahlen vor, die am 25. Januar stattfinden sollen. Das könnte die große Chance für das linke Syriza-Bündnis und dessen Chef Alexis Tsipras sein. Tsipras lehnt die Reformauflagen von EU und Internationalem Währungsfonds (IWF) ab und will im Falle eines Wahlsiegs einen Schuldenschnitt durchsetzen. Bei den Geldgebern stößt das nicht auf Begeisterung. Anfang Januar 2015 meldet der SPIEGEL, die Bundesregierung sei bereit, Griechenland notfalls aus der Eurozone ausscheiden zu lassen. Die Finanzmärkte reagieren schockiert.

Am 25. Januar 2015 gewinnt Alexis Tsipras mit seinem Linksbündnis Syriza die Parlamentswahl.

Die absolute Mehrheit verfehlt er dabei knapp – und muss eine Koalition eingehen.

Als Partner wählt Syriza ausgerechnet die rechtspopulistischen Unabhängigen Griechen.

Am 26. Januar wird Tsipras als Ministerpräsident vereidigt.

Wenige Tage nach der Wahl reist Euro-Gruppenchef Jeroen Dijsselbloem nach Athen.

Er will mit der neuen griechischen Regierung darüber sprechen, wie es mit dem Hilfs- und Reformprogramm weitergeht.

Doch was er erlebt, ist eine knallharte Abfuhr.

Griechenland weigere sich, weiter mit der Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und IWF zusammenzuarbeiten, sagt Finanzminister Giannis Varoufakis bei der gemeinsamen Pressekonferenz.

Dijsselbloem steht auf und geht – es reicht nur noch für einen flüchtigen Händedruck.

Nach wochenlangem Ringen mit gegenseitigen Drohgebärden einigen sich Griechenland und die Euro-Finanzminister am 20. Februar in Brüssel auf eine Verlängerung des laufenden Hilfsprogramms. Doch das Geld soll erst fließen, wenn Griechenland konkrete Reformvorschläge vorlegt, die von den Gläubigern gebilligt werden.

Ende März 2015 legt Tsipras Reformvorschläge vor, die Gläubiger lehnen sie umgehend ab – so wie alle der zahlreichen Reformlisten, die im Frühjahr aus Athen nach Brüssel geschickt werden. Der Ton wird noch rauer, die Drohgebärden drastischer. Die Griechen holen viele Milliarden Euro von ihren Bankkonten. Dennoch scheint ein Kompromiss in letzter Sekunde zu gelingen – bis zum 26. Juni: Tsipras kündigt ein Referendum über die Forderungen der Geldgeber an und empfiehlt den Griechen, gegen sie zu stimmen, die griechischen Verhandler werden aus Brüssel abgezogen. Die Euro-Finanzminister beschließen, das Hilfsprogramm auslaufen zu lassen – ohne die letzte Tranche zu überweisen. Die griechische Regierung verhängt Kapitalverkehrskontrollen, vom 29. Juni an sind die Banken geschlossen, Abhebungen und Überweisungen gedeckelt.

In der Nacht vom 30. Juni auf den 1. Juli endet das zweite Hilfsprogramm – und Griechenland bleibt zum ersten Mal seit Beginn der Krise eine Kreditrate schuldig: 1,54 Milliarden Euro hätte das Land an den IWF zahlen müssen. Die Geldgeber lehnen neue Verhandlungen bis zum Referendum am 5. Juli ab, Tsipras und Varoufakis knüpfen ihre politische Zukunft an ein Nein des Volks zu den Gläubiger-Forderungen. Im ganzen Land bilden sich lange Schlangen vor Geldautomaten, pro Tag gibt es höchstens 60 Euro. Rentner warten stundenlang vor den wenigen offenen Bankfilialen auf einen Teil ihrer Renten.

Am 5. Juli findet das Referendum über die Sparauflagen statt. Begleitet wird es zum Teil von scharfen Angriffen auf Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (beide CDU), der auf Plakaten als Vampir verunglimpft wird. Nachdem die Umfragen lange ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraussagen, triumphiert am Ende Tsipras: 61 Prozent der Abstimmenden folgen seinem Rat, die Reformforderungen der Gläubiger abzulehnen.

Unmittelbar nach dem Referendumserfolg vollzieht Tsipras eine beachtliche Kehrtwende: Sein umstrittener Finanzminister Varoufakis tritt zurück und braust am 6. Juli mit Ehefrau Danae von dannen (Foto). Kurz darauf legt Tsipras mit Unterstützung der französischen Regierung ein umfassendes Reformpaket vor, das den Forderungen der Gläubiger weit entgegenkommt. Obwohl dies eine 180-Grad-Wende bedeutet, bekommt Tsipras in der Nacht auf den 11. Juli im Parlament eine Mehrheit für die Aufnahme von Verhandlungen – allerdings nur mithilfe der Opposition.

Falls Tsipras sich von seinem Reformvorschlag eine schnelle Einigung erhofft hat, so wird aufs Gröbste enttäuscht. Zunächst bringt Finanzminister Wolfgang Schäuble vor einem Treffen mit seinen Amtskollegen die Option einen zeitweiligen Euro-Austritt ins Gespräch. Beim anschließenden Euro-Gipfel in der Nacht vom auf den 13. Juli verhindert EU-Ratspräsident Donald Tusk laut Teilnehmern ein Scheitern nur, indem er Merkel und Tsipras verbietet, den Raum zu verlassen. Am Ende wird Griechenland zwar ein neues Hilfsprogramm in Aussicht gestellt, nicht zuletzt auf Betreiben von Frankreichs Präsident Francois Hollande (M.). Doch Tsipras muss dafür Bedingungen akzeptieren, die deutlich härter als das ursprüngliche Angebot der Gläubiger sind.

Am 15. Juli muss das griechische Parlament die ersten Reformen beschließen, das Ultimatum haben die Euro-Partner gestellt. Für Tsipras und seinen neuen Finanzminister Efklidis Tsakalotos wird die Abstimmung jedoch zur Nervenprobe, denn der Widerstand in der Regierungspartei Syriza reicht bis zur Parlamentspräsidentin Zoi Konstantopoulou. Zwar bekommt Tsipras eine knappe Regierungsmehrheit zustande, doch die Spaltung seiner Partei ist nicht mehr zu übersehen. Darauf reagiert der Regierungschef, indem er zwei Tage später sein Kabinett umbildet und rebellische Minister entlässt. In der Nacht auf den 23. Juli werden weitere Reformforderungen verabschiedet, der Weg zu neuen Verhandlungen mit den Geldgebern ist vorerst frei.

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