2016-06-01



AlpTransit Gotthard AG

Von Björn Hengst, Janita Hämäläinen, Nicolai Kwasniewski, Jule Lutteroth, Kristina Gnirke, Christoph Seidler, Julia Stanek und Anna van Hove

“Vor der Hacke ist es duster.”

17 Jahre lang war es dunkel, heiß und gefährlich. Tausende Bergarbeiter haben ihr Leben unter Tage verbracht, um den längsten Eisenbahntunnel der Welt zu bauen. Mitten durch den Gotthard, mitten durch die Schweizer Alpen – und in dieser Zeit galt der alte Bergbau-Spruch, wonach man nie weiß, auf was man unter Tage stößt, ganz besonders. Zwei Röhren, jeweils 57 Kilometer lang, und über den Köpfen der Bergarbeiter die beeindruckende Felsmasse von bis zu 2300 Metern. Würde das Dach halten, bei der nächsten Sprengung, bei Wassereinbruch und Bergschlag?




STRABAG/Tunnelbau Schweiz

Bauingenieur Blindenbacher

Beat Blindenbacher war einer der Männer, die das Jahrhundertbauwerk möglich gemacht haben. Der Ingenieur war 14 Jahre lang für das Unternehmen Strabag Baustellenleiter auf der Nordseite des Gotthard-Basistunnels. Nun steht er bei Erstfeld vor dem Nordportal und ist stolz. Auf das Jahrhundertbauwerk, das am 1. Juni mit einem großen Staatsakt offiziell eröffnet wird, und auf seinen Beruf: “Einmal Tunnelbau, immer Tunnelbau”, sagt der 63-Jährige, der als Bauingenieur viel rumgekommen ist. Er war in den siebziger Jahren auch in Iran tätig, als dort noch der Schah regierte.

Der Höhepunkt seines Berufslebens, das steht für Blindenbacher fest, waren die Jahre am Gotthard-Basistunnel: “So etwas passiert dir nur einmal im Leben.” Der Gotthard, der für Goethe “den Rang eines königlichen Gebirges über allen anderen” besaß, ist mehr als ein Gebirge, sagt der Schweizer: “Der Gotthard ist ein Mythos.” Die im 19. Jahrhundert gebaute Gotthardbahn prägte die Schweiz und half dem Land, sich vom Agrarstaat zum modernen Industrie- und Wissenschaftsland zu wandeln: “In der Gotthardbahn materialisierte sich die moderne Schweiz”, schreibt die “Neue Zürcher Zeitung”.

Mit 57 Kilometern Länge wird der Gotthard vorerst der längste Eisenbahntunnel der Welt sein – doch insgesamt umfasst das Projekt sogar 151,8 unterirdische Kilometer. Da sind die Röhren in beide Richtungen, jeweils mit einem Durchmesser von 8,5 bis 13 Meter in den Fels geschnitten. Dazu kommen alle 330 Meter die 40 bis 70 Meter langen Quertunnel – aus Sicherheitsgründen: So können Menschen im Katastrophenfall in die Nachbarröhre flüchten. Außerdem gibt es für diesen Zweck auch noch die beiden sogenannten Multifunktionsstellen in – oder besser gesagt unter – den Orten Sedrun und Faido.

Aus dem Fels gesprengt wurde gut ein Drittel der Gesamtstrecke, bei teils extremen Bedingungen: “Die Felsen in der Tiefe haben eine Temperatur von 45 Grad Celsius und die haben natürlich auch die Umgebung erwärmt. Weil das Arbeitsrecht nur 28 Grad erlaubt, mussten wir riesige Kühlaggregate einbauen”, sagt Renzo Simoni, CEO der AlpTransit Gotthard AG. Bis zu 2400 Arbeitskräfte waren für die Arbeiten im Tunnel, neun Menschen ließen ihr Leben. “Unser Anliegen war es, die Anzahl der Unfälle deutlich unter dem Durchschnitt anderer Baustellen zu halten – das hat zwar funktioniert, aber jeder einzelne Tote ist zu viel”, sagt Simoni.

Vier gigantische Bohrmaschinen, jeweils bis zu 2700 Tonnen schwer und so lang wie vier Fußballfelder hintereinander, erledigten einen Großteil der Arbeit. Die 400 Meter langen Aggregate des süddeutschen Herstellers Herrenknecht kamen unter idealen Bedingungen bis zu 40 Meter am Tag voran – und sorgten so für den Bau von 64 Prozent des Tunnelsystems. Das lief allerdings nicht immer problemlos: Eines der Aggregate (“Gabi 2”) steckte fast ein halbes Jahr fest, nachdem es verschüttet worden war. Ein anderes (“Sissi”) musste vier Monate eingeklemmt pausieren – doch im Jahr 2010 machte genau dieses Bohrgerät den Tunneldurchbruch perfekt.

So funktioniert die “Sissi”

AlpTransit Gotthard AG

28,1 Millionen Tonnen Material kamen innerhalb von sieben Jahren Bauzeit zusammen, die aus dem Berg gebracht wurden. Zwei Drittel wurden zu Schotter zerkleinert und als Baumaterial verkauft, mehrere kleine Inseln wurden im Urnersee aufgeschüttet. Ein Drittel wurde zu Beton verarbeitet und kam gleich wieder im Tunnel zum Einsatz. “Unter ökologischen Gesichtspunkten ist das wegweisend”, sagt Felix Amberg, der mit seiner Schweizer Firma Amberg Engineering entscheidend für Ausführungsplanung und Bauaufsicht verantwortlich war.

Während sich die Bohrmaschinen durchs Gestein frästen, wurde der Tunnel direkt dahinter ausgebaut und abgedichtet. Eine “logistische Herausforderung”, nennt Amberg das. Doch die habe sich gelohnt: “Wenn man das hintereinander gemacht hätte, hätte man wohl fünf bis sechs Jahre länger gebraucht.”

Gesteine wie Gneis oder Granit sind für den Tunnelbau eher unproblematisch, aber es gab rund 90 unterirdische Störungen, die schon vor Baustart identifiziert worden waren. “Man hat gewusst, was die kritischen Zonen sein könnten”, sagt Heinz Ehrbar. Der Schweizer leitet heute den Bereich Großprojekte bei der Deutschen Bahn, bis zum Jahr 2012 war er auf Bauherrenseite für die Rohbauarbeiten des Gotthardtunnels verantwortlich. “Am längsten Tunnel der Welt durfte es kein Trial and Error geben.”

Der neue Gotthard-Basistunnel – ein Jahrhundertbauwerk. Er ist der längste Eisenbahntunnel der Welt – und der tiefste. Teilweise führt die Strecke 2300 Meter unter Fels hindurch.

Im Gegensatz zum alten Tunnel verläuft die neue Verbindung fast ohne Kurven und Steigungen auf einer Höhe von maximal 550 Metern über dem Meeresspiegel.

In Spitzenzeiten waren am Bau des Gotthard-Basistunnels bis zu 2400 Arbeitskräfte beteiligt.

Durch den fast ebenerdigen Verlauf können in den zwei neuen Röhren mehr und längere Züge fahren. Statt bislang 1400 Tonnen ziehen zwei Loks dann Waggons, die mit bis zu 2000 Tonnen Fracht beladen werden können. Zudem brauchen die Züge keine zusätzliche Schiebelok mehr, das macht die Fahrten zusätzlich schneller, denn nun muss nicht mehr rangiert werden. Pro Jahr rollen rund 26 Millionen Tonnen Fracht auf Zügen durch die Schweizer Alpen. Tendenz: steigend.

Im Oktober 2010 fand in der neuen Gotthard-Oströhre der erste Hauptdurchschlag statt: Aus dem Süden waren die Bohrmaschinen rund 30 Kilometer in das Bergmassiv eingedrungen, 27 km aus dem Norden. Die Abweichung betrug horizontal acht Zentimeter und vertikal einen Zentimeter.

Mit vier Herrenknecht-Bohrmaschinen wurde der weitaus größte Teil der zwei Riesenröhren für den Gotthard-Basistunnel aus dem Fels geschnitten.

Die Firma Herrenknecht stammt aus dem baden-württembergischen Schwanau und ist Weltmarktführer für Tunnelvortriebstechnik. Firmenchef Martin Herrenknecht nennt die Inbetriebnahme “die Erfüllung eines Wunschtraums”.

Für die beiden Hauptröhren sowie die Sicherheits-, Belüftungs- und Querstollen wurden insgesamt 152 Kilometer lange Strecken aus dem Gestein gebrochen. Die Masse an entferntem Gestein: unglaubliche 28,2 Millionen Tonnen. Das ist mehr als fünf Cheops-Pyramiden zusammen.

80 Prozent des Aushubs wurde durch die Bohrmaschinen aus dem Berg geholt, 20 Prozent über konventionellen Sprengvortrieb.

Die vier Bohrmaschinen, die sich durch den Gotthard fraßen, bekamen Kosenamen: Heidi, Sissi, Gabi 1 und Gabi 2.

Die neue Gotthardstrecke ist auf Hochgeschwindigkeit ausgelegt. Personenzüge sollen mit 200 Stundenkilometern fahren, Güterzüge mit 100. Möglich sind Höchstgeschwindigkeiten bis 250, für Güterzüge bis zu 160.

Im neuen Gotthard-Basistunnel können pro Tag bis zu 260 Güterzüge die Alpen queren, auf der historischen Bergstrecke waren es maximal 180. Dazu kommen bis zu 65 Personenzüge.

Personenzüge werden im Halbstundentakt verkehren. Nach Abschluss der Arbeiten auf der ganzen Gotthard-Achse werden Reisende zwischen Zürich und Lugano rund 45 Minuten einsparen.

‘);

currentAssetId = 137607;

}

ADI.reload(pos);

}

Die sogenannte Piora-Mulde galt als besonders problematisch, ein Streifen lockeren Dolomitgesteins, der als schmales senkrechtes Band quer durch die Alpen läuft. Bei einer Testbohrung im März 1996 hatten 5600 Kubikmeter dieses wassergesättigten Breis einen fünf Kilometer langen Probestollen geflutet. “Das ist, als würde man 1700 Meter unter dem Meeresspiegel die Wand eines U-Boots von innen durchbohren”, erklärte Georgios Anagnostou, Professor für Untertagebau an der ETH Zürich. Sechs Männer konnten sich damals nur durch Glück retten.

Mit dem zuckerartigen Gestein der Mulde gab es beim Bau des eigentlichen Tunnels dann kaum Probleme. Wie sich herausstellte, lag unter dem Material eine Zone harten Dolomitmarmors – und darin ließ sich gut bauen. “Dort, wo man Probleme erwartet hat, lief es einfacher, woanders war es schwieriger”, sagt Heinz Ehrbar. Wegen einer überraschend aufgetretenen Störungszone mit hohem Gebirgsdruck musste etwa die Nothaltestelle Faido umgeplant werden.

Der Tunneldurchmesser wurde absichtlich größer gewählt und mit doppelten Stahlprofilen ausgekleidet. Der Berg drückte diese dann ein Stück weit zusammen. Bis zu einem Meter Absenkung waren vorhergesagt, am Schluss wurden es 80 Zentimeter. “Wenn man heute sagt, nur das günstige Gebirge hat den Erfolg möglich gemacht, dann stimmt das nicht”, sagt Ehrbar. Die Tunnelbauer hätten sich Rat aus der Bergbauindustrie geholt. Nur so habe man ein Profil finden können, das sich gezielt verforme – und dem Druck des Berges Einhalt gebiete.

Schwierigkeiten gab es auch unweit der Nothaltestelle Sedrun. Hier liegt das sogenannte Tavetscher Zwischenmassiv, eine Störzone, in diesem Fall einen ganzen Kilometer lang. Der Fels bestand aus dem weichen Mineral Kakirit, das bei der Faltung der Alpen zermahlen worden war. Zusammen mit Wasser bekommt es eine lehmige Konsistenz. Die Tunnelbohrmaschinen blieben stecken, auch gesprengt werden konnte nicht.

CSC Bauunternehmung/Lugano

Bauingenieurin Pagani

Eine Frau im Tunnel – das war früher für viele Bergleute kaum vorstellbar. Die Mineure waren der Auffassung, dass nur die Heilige Barbara, Schutzpatronin der Bergleute, unter Tage sein dürfe. Die Gunst der Heiligen wollten sie lieber nicht aufs Spiel setzen. Mit diesen Aberglaube sah sich Cristina Pagani noch während ihrer Ausbildung zur Bauingenieurin konfrontiert und musste dagegen anreden. “Schließlich sahen sie, dass ihnen nichts zustößt, wenn ich mit ihnen unten im Tunnel arbeite”, sagt die heute 41-Jährige.

Pagani war im Teilabschnitt Sedrun damit beschäftigt, den Vortrieb vorzubereiten. “Ein schwieriger Abschnitt”, sagt sie. Der Moment, als sich die Spannung in den Stahlbögen aufgebaut hat und diese sich zusammenschoben, war wohl für alle Beteiligten unvergesslich: “Es hat sehr laut geknallt, das war schon speziell. Teilweise hatten wir 1000 Meter Fels über dem Kopf. Wir haben nach dem Knall für einen Moment geschaut, ob auch alles hält – aber die Konstruktion war dafür ja vorgesehen, alles war bestens geplant.”

Während der Eröffnungsfeiern wird Pagani erstmals durch den Gotthard-Basistunnel fahren. “Man ist schon ein bisschen stolz auf dieses Projekt, das nicht nur für die Schweiz, sondern für ganz Europa wichtig ist.”

Als der Durchbruch gelang

AlpTransit Gotthard AG

680 Höhenmeter mussten Güterzüge bei der Gotthard-Durchquerung bisher erklimmen, der neue Basistunnel steigt nur noch um 90 Meter an. So reicht bald nur noch eine Lok für einen 1600-Tonnen-Zug statt heute drei. Die Schweizer Bahn rechnet mit einem Drittel niedrigeren Energiekosten, auch die Rangierzeiten sinken enorm.

Günstiger, schneller, zuverlässiger – Konzerne wie Deutsche Bahn und Schweizer SBB hoffen nun auf neue Kunden. Gotthard- und der noch zu bauende Ceneri-Basistunnel senken zusammen die Fahrzeit für Güterzüge durch die Schweiz um eine Stunde und drücken die Kosten der Bahnunternehmen um etwa 30 Prozent, hat der Schweizer Bundesrat errechnet. Das hilft genauso Touristikregionen wie dem Tessin, für das Wirtschaftsexperten einen Boom durch die schnelle Alpenquerung erwarten.

Von einer neuen Ära der Schienen-Langstrecken träumen die Bahnkonzerne. Das Herzstück, der Gotthard-Basistunnel, ermöglicht auf der wichtigen Achse von Rotterdam an der Nordsee nach Genua am Mittelmeer erstmals eine direkte Durchfahrt ohne die bisherigen enormen Steigungen, bietet mehr Trassen und dadurch weit schnellere Verbindungen als je zuvor. “Der Gotthard-Basistunnel ist nicht nur eine Investition für die Schweiz, sondern für ganz Europa”, sagt Marcus Hassler, Infrastruktur-Projektleiter des Schweizer Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse.

Besonders Deutschland profitiert von der Verbindung: 15 Millionen Tonnen Güter werden jährlich zwischen Deutschland und Italien über die Schweizer Alpen transportiert – mehr als zwischen anderen Ländern. Das Gotthard-Projekt “verbindet die Mega-Wirtschaftsräume Baden-Württemberg und Lombardei”, sagt Renzo Simoni, Chef der Alptransit Gotthard AG, die den Tunnelbau verantwortet.

Träume von gigantischen Dimensionen kursieren im Vorstand der Deutschen Bahn: 1500 Meter lange Züge. Mit ihnen könnte die Bahn für den Gütertransport noch attraktiver werden. Heute gelten schon 740 Meter lange Waggontrecks als besonders lang. Nur vereinzelt fahren Züge, die 100 Meter länger sind. Doch mit dem steigenden Bedarf an Güterzügen, könnte die Länge der Züge tatsächlich wachsen. Ab 2030 dürften Unternehmen die Lasten von 240.000 alpenquerenden Lkw-Fahrten auf der Schiene verlagern, schätzen die Schweizer Behörden.

Das “schwierigste Teilstück” des Transitkorridors sei fertig, nun hänge es an Deutschland und Italien, ob der schnelle Spurt für die Bahnkonzerne und ihre Kunden gelinge. “Die Anbindungen im Norden nach Deutschland und im Süden nach Italien müssen rasch fertiggestellt werden, um die Investitionen am Gotthard zu rentabilisieren und den internationalen Korridor zu vollenden”, sagt Economiesuisse-Projektleiter Hassler.

Was in der Schweiz erreicht wurde, kommt im Rheintal nur schleppend voran: Obwohl Deutschland schon 1996 in einem Staatsvertrag mit der Schweiz den Aus- und Neubau der Rheintalstrecke Karlsruhe-Basel festgezurrt hatte, verzögert sich der Ausbau wegen Lärmschutzarbeiten nun wohl bis 2035. Auch Italien kommt mit seinen Zufahrtstrecken langsamer voran als geplant.

Einen Seitenhieb auf die Nachbarn kann sich Alptransit-Chef Simoni daher nicht verkneifen: “Ich bin froh, dass die Schweiz in Vorleistung gegangen ist, jetzt können wir den Nachbarn zeigen, dass es möglich ist und einfordern, dass die ausstehenden Teile dieser Verbindung jetzt zügig realisiert werden. Hätten wir das umgekehrt gemacht, hätten wir wahrscheinlich noch immer nicht begonnen.” Simoni lässt sogar schon testen, was Deutsche-Bahn-Chef Grube für die Zukunft plant: Seit Februar prüfen Experten von Alptransit den Einsatz von 1500 Meter langen Zügen im Gotthard-Basistunnel.

Sonnenaufgang über dem Valle Leventina: “Der Gotthard hat mythische Qualitäten”, sagt Helmut Stalder, der gerade das Buch “Gotthard. Der Pass und sein Mythos” (Orell Füssli Verlag) veröffentlicht hat. “Hier entspringen wichtige europäische Flüsse, der Berg trennt und verbindet die Sprachen und Kulturen von Nord und Süd – und war auch in der Geschichte der Schweiz immer wieder ein Ort, an dem Entscheidendes geschah.”

Nostalgie-Tour mit Pferdegespann: Im 19. Jahrhundert gelangten die Menschen per Postkutsche über den Gotthard. Für die 90 Kilometer lange Strecke über den Pass brauchten die gelben Kutschen rund 30 Stunden.

In 40 Jahren wurden so rund eine Million Passagiere befördert. “Nichts hat das gelbe Gespann vom Gotthard so sehr mythisiert wie das Gemälde ‘Die Gotthardpost’ von Rudolf Koller”, schreibt Helmut Stalder in seinem Buch über das Schweizer Bergmassiv. “Man hört förmlich die Hufe dröhnen, die Pferde schnauben, die Peitsche knallen und das Kälbchen panisch muhen.” Das Gemälde ist eines der am meist reproduzierten Gemälde der Schweiz.

1881 ging die Ära der Gotthard-Post zu Ende – durch den Bau des Scheiteltunnels unter dem Gipfel des Bergs und der 206 Kilometer langen Bahnstrecke von Immensee nach Chiasso. “Die Eisenbahn ist die Hochtechnologie des 19. Jahrhunderts und in der ganzen westlichen Welt das Symbol für den Fortschritt”, heißt es in Stalders Buch. “Sie treibt die Industrialisierung an, verknüpft Wirtschaftsräume, macht moderne Produktionsweisen möglich, setzt Pünktlichkeit, Disziplin und technische Fertigkeiten in entlegensten Gebieten durch.”

Historisches Plakat zur Eröffnung des ersten Gotthard-Tunnels: “Seine Entstehung ist offenbar ein Stoff, von dem sich die Menschen immer wieder faszinieren lassen wollen”, schreibt Gotthard-Kenner Stalder in seinem Buch. Der Tunnel berge “tatsächlich alles, was ein ergreifendes Heldenepos braucht: die Vision der großen Tat, die Leidenschaft, die Neider, die Intrigen, den Tyrannenmord, die Entsagung, den Märtyrertod, den Triumph des Gelingens.”

Übergang zur neuen Bahnepoche: Der Bau des ersten Gotthardtunnels hat 66,7 Millionen Franken gekostet – 7,1 Millionen mehr, als die Vertragsstaaten 1869 veranschlagt hatten. “Der Tunnel war die erste wintersichere Verbindung durch die Schweizer Alpen, der schnellste und einfachste Weg durchs Zentralgebirge des Kontinents”, schreibt Stalder. Aber die Öffentlichkeit sei damals nicht von diesen nüchternen Fakten “berauscht” gewesen, sondern von etwas viel Größerem: “Die Gotthardbahn

ist der Triumph der Technik, der Sieg des Menschen über die Natur.”

Traumstraße und Tremola: “Die Dichter und Denker des 18. Jahrhunderts haben auf ihrer Schweizer Reise den Gotthard besucht und ihn als besonderen Ort in den Köpfen verankert”, schreibt Helmut Stalder über den Lieblingsberg der Schweizer. Für Goethe und seine reisenden Nachfolger seien Orte wie der

Rheinfall, die Staubbachfälle im Lauterbrunnental, das Rütli und vor allem

der Gotthard-Pass “Reiseziele, die man aufsuchte, um ihrer selbst willen”.

Touristen auf der Passstraße in Airolo: “Im späten 19. Jahrhundert wurde das Gotthard-Gebiet mit dem Bahntunnel immer mehr zum Transitraum. Ziel der Reisen war nicht mehr der Pass selbst, sondern seine Überwindung auf dem Weg in den Süden.”

Fahrt ins Blaue: Im August 1901 fuhr erstmals ein Auto über den Gotthard. Folgenden Zeilen sind von der Pannentour des Franzosen

Arraou dokumentiert: “Die Steigungen

wuchsen, und der Motor erwies sich zu ihrer Überwindung als zu schwach, so dass der Wagen mit den Händen vorwärts gestoßen wurde. Nach Überschreitung der Höhe des Gotthardpasses begann die Hinabfahrt. Die Bremsen, die unglücklicherweise

Lederbekleidungen hatten, brannten innerhalb weniger Minuten.”

Wanderer am Gotthard-Stausee: Rund um das Bergmassiv versuchen die Kommunen, einen gemeinsamen Tourismusraum zu entwickeln – von Altdorf bis Bellinzona und von Brig bis Chur. “Jede Talschaft für sich allein erreicht die kritische Masse nicht, die es für eine Tourismusdestination mit weltweiter Ausstrahlung braucht”, sagt Helmut Stalder. Gemeinsam jedoch verfügten sie über nicht weniger als 4000 Kilometer Wanderwege, 1100 Kilometer Mountainbike-Pisten, 300 Kilometer Radwege, 550 Kilometer Skipisten, 300 Kilometer Winterwanderwege, 200 Kilometer Langlaufloipen, 52 Tennisanlagen und 5 Golfplätze, 38 Museen, 300 Hotels, 24 Campingplätze und 3300 Ferienwohnungen und 20 Jugendherbergen.

Schöllenenschlucht bei Göschenen: Helmut Stalder schwärmt von der “wunderbaren Linienführung” der alten Gotthard-Strecke. “Sie war und ist selbst eine Touristenattraktion.” Dessen sind sich auch die Schweizer Bundesbahnen (SBB) bewusst. Man wolle “die historisch und touristisch attraktive Bergstrecke auch nach der Inbetriebnahme des neuen Gotthard-Tunnels betreiben und einen Beitrag zur Stärkung und Entwicklung des Tourismus in der Region St. Gotthard leisten”, sagt SBB-Sprecher Oli Dischoe.

Bergidyll mit Barockkirche: Ob Familienausflüge, Pfadfinderlager oder Bahnfahrt durch die Kehrtunnels von Wassen – jeder Schweizer hat seine Kindheitserinnerungen an den Gotthard. Doch dieser ist mehr als ein Ort, an den man gerne zurückdenkt: “Er ist der helvetische Stammesmythos”, schreibt Historiker und Buchautor Helmut Stalder, der auch für die “Neue Zürcher Zeitung” arbeitet.

“Auch nach der Inbetriebnahme des neuen Gotthard-Basistunnels wird pro Stunde und Richtung mindestens ein Personenzug auf der alten Gotthard-Bergstrecke fahren”, teilt der SBB mit. Das Unternehmen wolle sich “langfristig finanziell an der Zukunft der Bergstrecke zu beteiligen”.

Wanderparadies in den Alpen: Oberhalb von Hospental im Urserental zeigen Wegmarken den Verlauf der alten Gotthard-Straße. “Der Gotthard ist eine Schatzkammer der

Natur und ein gewachsener Kulturraum mit einer Vielfalt, die in dieser Verdichtung

nirgendwo sonst vorkommt”, schwärmt der Historiker Helmut Stalder, der als Redakteur für die “Neue Zürcher Zeitung” arbeitet. “Mit Furka, Nufenen, Grimsel, Lukmanier, Oberalp, Susten, Klausen und Gotthard verbinden

sich acht Pässe zu einer einzigartigen Passlandschaft.”

Elementare, wuchtige Natur wie die Rheinschlucht, der Rhonegletscher, das Unesco-Welterbe Jungfrau-Aletsch und die Greina-Hochebene fänden sich neben “Meisterwerken der Zivilisation”: die Burgen von Bellinzona, die Verkehrswege in der Tremola, der Schöllenen- und der Piottinoschlucht, die Gotthard-Bahn als technisches Gesamtkunstwerk, die Matterhorn-Gotthard-Bahn und viele historische Gebäude und Kirchen.

‘);

currentAssetId = 137645;

}

ADI.reload(pos);

}

Max Weiler war schon drin im neuen Gotthard-Basistunnel, der Lokführer konnte sich bei Sicherheitsübungen ein Bild von ihm machen. Der 52-Jährige liebt die alte Gotthard-Bergstrecke, weil sie Lokführer wegen der vielen Kurven fordert und zudem landschaftlich reizvoll ist. Der Basistunnel dagegen lässt Weiler ziemlich kalt: “Schienen, Wände, Stromleitungen , sonst gibt es im Tunnel nichts”, sagt er. Kein Bergpanorama mehr, wenn er durch den neuen Tunnel fährt, kein Blick auf die Barockkirche von Wassen, die zu einem Wahrzeichen der Gotthard-Bergstrecke wurde. “Wenn es dumm läuft, muss ich da bald täglich durch”, sagt Weiler.

Viele Eisenbahn-Enthusiasten werden es dagegen kaum erwarten können, nach Ende des Testbetriebs im Dezember ebenfalls durch den längsten Bahntunnel der Welt zu fahren – und vielleicht schon mal überlegen, bei welchem Ticket der Tunnelblick inklusive ist. Voraussichtlich ab dem 11. Dezember soll der normale Betrieb starten. Ab dann werden täglich 65 Personenzüge die 57 Kilometer lange Strecke passieren.

“Der Gotthard-Basistunnel ist ein Meilenstein, aus vielerlei Hinsicht eine Meisterleistung”, sagt Oli Dischoe, Sprecher der Schweizer Bundesbahnen (SBB). “Man kann ihn durchaus als Leuchtturmprojekt bezeichnen.” Der große Vorteil, den der neue Tunnel für Reisende mit sich bringt, sind kürzere Fahrtzeiten. Auf der Strecke von Zürich nach Mailand werden Züge künftig drei statt vier Stunden brauchen. Und auch die Verbindungen von deutschen Bahnhöfen aus werden durch die Neuauflage des Gotthards beschleunigt.

Ziele in Italien erreichen zum Beispiel aus Deutschland kommende Reisende über Umsteigeverbindungen in Zürich und Basel. Die Reisezeiten ins Tessin via Basel verkürzen sich laut einer Sprecherin der Deutschen Bahn (DB) voraussichtlich um rund eine halbe Stunde. “Gemäß den aktuellen Planungen werden Reisende Bellinzona rund 45 Minuten und Lugano rund 30 Minuten schneller erreichen als bisher.” Eigene DB-Züge werden nicht durch den neuen Tunnel verkehren, sondern nur die der SBB.

Eine direkte Zugverbindung von Frankfurt am Main nach Mailand soll es ab 2018 geben. “Derzeit laufen Gespräche zwischen der DB, den SBB und der italienischen Trenitalia”, sagt die Bahnsprecherin. “Genaueres können wir aber zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen.” Auch Peter Jedelhauser, Leiter der Projektorganisation bei den SBB, bestätigte Pläne für die Direktverbindung, die nötigen Verträge seien aber noch nicht unterzeichnet.

Der Gotthard-Basistunnel bewegt die Schweizer. Das zeigt sich auch daran, dass die Swissmint – die offizielle Münzprägestätte des Landes – zwei Gedenkmünzen zu dem Bauwerk herausgegeben hat. Die Schweizerische Post widmete der Eröffnung des neuen Basistunnels eine Sondermarke mit Spezialeffekten. Dabei kam sogar Gesteinspulver aus dem Gotthard zum Einsatz.

Bernadette Zgraggen aus Erstfeld musste nicht auf die Sondermarken warten, um ein kleines Stück Gotthard in den Händen zu halten. Ihr Mann, ein inzwischen pensionierter Lokführer, brachte ihr mehrere kleine Steine mit nach Hause – Ausbruchmaterial aus dem Gotthard. Die Steine liegen jetzt zur Zierde im Regal. Die 64-Jährige sagt: “Ein schönes Andenken.”

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels hieß es, der Ceneri-Basistunnel werde auf italienischer Seite ausgebaut. Dieser liegt jedoch im Schweizer Kanton Tessin. Wir haben den Fehler korrigiert und bitten, ihn zu entschuldigen.

Source link

The post Gotthard-Basistunnel: Der Jahrhundertbau – SPIEGEL ONLINE appeared first on 23on.com.

Show more