2015-05-18

In den vergangenen Monaten ist es hier im Blog leider viel zu still gewesen – eine Stille, die primär darauf zurückzuführen ist, dass ich jede verfügbare Minute in die Erarbeitung eines strategischen Handlungskonzepts (Projekttitel “SEVIP&V – Sektorübergreifende Vernetzung in Pflege und Vorsorge“) für unsere Kreisstadt Halberstadt zum Umgang mit dem demografischen Wandel – und vor allem zur langfristigen Absicherung der pflegerischen Grundversorgung in der Region – investiert habe. Nachdem dieses Konzept zum 30. April beim BMBF eingereicht werden konnte, habe ich nun endlich mal wieder etwas mehr Zeit für die ScienceBlogs, wobei ich gerne mit der Aufarbeitung verschiedener Rechercheergebnisse beginnen möchte, die wir aus Platzgründen im SEVIP&V-Konzept nicht mehr oder nur verkürzt unterbringen konnten. In den nächsten Wochen wird hier daher der demografische Wandel mit seinen Folgen im Vordergrund stehen, der bei uns an der Hochschule Harz mehr und mehr zu einem zentralen Forschungs- und Projektthema avanciert – über die in dieses Forschungsfeld fallenden Projekte Silver Clips und DigiWund hatte ich hier im Blog ja bereits mehrfach berichtet. Einen kleinen Einblick in die Demografieforschung an unserer Hochschule bietet auch der nachfolgend eingebundene, eigens für den 3. Demografiekongress des Landes im April produzierte Videofilm, in dem ich sogar einen kurzen Cameo-Auftritt habe.

In meinem heutigen Blogpost soll es um einen Effekt gehen, den ich analog zum bekannten Effekt der doppelten demografischen Alterung (steigende Lebenserwartung bei sinkender Geburtenrate) gerne als doppelten demografischen Druck auf die Pflege bezeichne: Eine stetig steigende Anzahl an Pflegefällen ist durch eine im Verhältnis schrumpfende Gruppe an Pflegekräften ambulant oder stationär zu betreuen. Ausschlaggebend sind hier vor allem drei Faktoren, die nachfolgend einzeln betrachtet werden sollen: Die (durch den demografischen Wandel) steigenden Fallzahlen, die ungünstigen Arbeitsbedingungen in der Pflege und der wiederum aus diesen beiden Faktoren resultierende Fachkräftemangel, der in den nächsten Jahrzehnten bewältigt werden muss.

Wie entwickeln sich die Fallzahlen in der Pflege?

Der demografische Wandel wird absehbar zu einem rasanten Anstieg der Anzahl an Pflegefällen führen. Waren in Deutschland im Jahr 2010 bereits 2,4 Millionen Menschen pflegebedürftig, wird diese Gruppe bis 2020 schätzungsweise auf 2,9 Millionen, bis 2030 auf 3,4 Millionen und bis 2050 auf 4,4 Millionen Menschen anwachsen [vgl. BMBF 2011, S. 14 und BMWi 2014, S. 9]. Europaweit wird es bis 2060 fast 40 Millionen pflegebedürftige Menschen geben – eine Verdoppelung von rund 20 Millionen Pflegebedürftigen im Jahr 2007 [vgl. Carretero et al 2012, S. 18].

Dieser dramatische Anstieg wird sich allerdings regional stark unterschiedlich entfalten: Während etwa die Zahl der Pflegebedürftigen in Schleswig-Holstein zwischen 1999 und 2011 um lediglich 5,6% anstieg, erhöhte sie sich in Brandenburg im gleichen Zeitraum um 49,2% (Bundesschnitt: 24%) [vgl. Stemmer 2014, S. 2]. Sachsen-Anhalt wird von dieser Entwicklung aus verschiedenen Gründen in besonderem Maße betroffen sein: Allein zwischen 2009 (81.000 Pflegebedürftige) und 2020 (erwartete 110.000 Pflegebedürftige) ist mit einem weiteren Aufwuchs der Pflegebedürftigkeit um 35,8% zu rechnen [vgl. MLV 2010, S. 73].

Der aus diesem Aufwuchs resultierende Druck auf die professionelle (wie übrigens auch auf die informelle) Pflege wird dadurch verstärkt, dass es innerhalb der größer werdenden Gruppe an Pflegebedürftigen zu einer anteiligen Zunahme an Personen mit einem ganz besonders hohen Pflegeaufwand kommen wird. Insbesondere die Anzahl an dementiell erkrankten Patienten wird sich von derzeit rund 1,4 Millionen auf etwa 2,2 Millionen Menschen bis zum Jahr 2030 nahezu verdoppeln [vgl. BMBF 2013a, S. 24], wobei auch hier Sachsen-Anhalt wieder in besonderem Maße betroffen sein wird: Von 80.767.000 Bundesbürgerinnen und -bürgern sind derzeit etwa 1.400.000 an Demenz erkrankt, d.h. 1,73% der Bevölkerung. Betrachtet man im Vergleich die nach Bundesländern aufgeschlüsselte Demenz-Statistik der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft (DAlzG) aus dem Jahr 2012, so wird ersichtlich, dass es bereits vor drei Jahren 95.040 erfasste Demenzfälle in Sachsen-Anhalt gab – bei (damals noch) 2.310.000 Einwohnern. Die Demenzrate lag in Sachsen-Anhalt also bei 4,11% – und überstieg den Bundesdurchschnitt damit bereits 2012 um mehr als das Doppelte. Neben Demenzkranken wird auch der Anteil der chronisch Erkrankten [vgl. Carretero et al. 2012, S. 15] sowie der Schwer- und Schwerstbehinderten, der Alleinlebenden ohne ein familiäres Unterstützungsnetzwerk sowie der älteren Migrantinnen und Migranten mit mangelnden sprachlichen Kenntnissen und teils auch besonderen kulturellen Anforderungen an Pflegeleistungen stark zunehmen [vgl. Becke et al. 2011, S. 17].

Die Zahlen lassen erahnen, welchen organisatorischen und personellen Anforderungen sich die professionelle Pflege in den nächsten Jahrzehnten stellen muss. Dass es vielen Pflegediensten und Pflegeeinrichtungen – gerade in Sachsen-Anhalt – trotz des steigenden Bedarfs derzeit nicht gelingt, genügend Fachkräfte zu binden und den Nachwuchs über die Neubesetzung von Ausbildungsplätzen abzusichern, ist insbesondere den ungünstigen Arbeitsbedingungen in der Pflege geschuldet, die im kommenden Abschnitt kurz beleuchtet werden sollen. In Kombination tragen beide Faktoren – demografischer Wandel und schlechte Arbeitsbedingungen – erheblich zum Fachkräftemangel in der Pflege bei, welcher dann im letzten Blog-Abschnitt betrachtet wird.

Warum finden sich nicht genügend Pflegekräfte?

Wie zahlreiche Studien belegen, ist gerade die Altenpflege von einem großen Maß an physischen und psychosozialen Belastungen gekennzeichnet. Auf der physischen Ebene gehören hierzu etwa das Heben und Tragen von Gepflegten, Infektionsgefährdungen und Hautbelastungen durch die ständige Desinfektion, auf der psychischen Ebene der permanente Umgang mit Kranken und Sterbenden, die geringe gesellschaftliche Anerkennung und die Folgen körperlicher Übergriffe durch demenzkranke Patienten. Hinzu kommen physische und psychische Belastungen, die durch die Organisation der Pflegearbeit (Nachtdienste, Wochenendarbeit, Schichtarbeit, Feiertagsarbeit, hohes Tempo, widersprüchliche Anforderungen, mangelnde Familienfreundlichkeit etc. pp.) verursacht werden [vgl. Faller und Reinboth 2011, S. 240 / Knüppel 2012, S. 5].

Für die sehr hohe Unzufriedenheit vieler Pflegekräfte mit der eigenen Arbeit sowie für die mangelnde Anziehungskraft des Pflegeberufes auf Schüler, Studenten und Auszubildende sind insbesondere drei Belastungsfaktoren von zentraler Bedeutung, die nachfolgend kurz betrachtet werden: Widersprüchliche Zielvorgaben, die zu schweren Konflikten zwischen professionellem Selbstverständnis und Praxis führen, der stetig steigende Zeitdruck sowie die niedrige Entlohnung und die ungünstigen arbeitsvertraglichen Rahmenbedingungen (Teilzeitstellen, Befristungen).

Die angesprochenen Zielkonflikte ergeben sich primär aus der Betrachtung (und Abrechnung) von Pflegedienstleistungen als „weitgehend homogene Güter […], die in großem Maße reglementiert und standardisiert werden [können].“ [Bednarczyk 2013, S. 7] Obwohl es sich bei Pflegearbeit eigentlich um eine stark kontext- und situationsbezogene Tätigkeit handelt, die idealerweise sowohl im Hinblick auf den Patienten als auch auf das Pflegesetting individualisiert erbracht werden sollte [vgl. Hülsken-Giesler 2011, S. 7], führt die starke Ökonomisierung der Pflege sowie die Standardisierung pflegerischer Prozesse in der Praxis dazu, dass Pflegekräfte sich häufig nur sehr unzureichend auf Patienten und Situationen einstellen können. Gerade intrinsisch motivierte Pflegekräfte, die hohe Ansprüche an sich selbst stellen und denen sehr wohl bewusst ist, dass sie unter den gegebenen zeitlichen, finanziellen und organisatorischen Bedingungen nicht die Qualität erreichen können, die sie eigentlich erreichen wollen, leiden stark unter den dadurch verursachten inneren Widersprüchen [vgl. Nowak 2011, S. 9 / Kannenberg-Otremba 2005, S. 89-90].

Wie [Becke et al. 2011, S. 79] darstellt, treten diese Widersprüche etwa bei der Begleitung von Sterbenden auf, die allein schon aus Zeitgründen in der Praxis meist sehr viel weniger individuell und zwischenmenschlich bereichert zu erfolgen hat, als dies sowohl für Sterbende als auch für Pflegekräfte wünschenswert wäre. Auch im Rahmen der Workshops während unseres Projeks in Halberstadt war die Begleitung von Sterbenden ein wiederkehrendes Motiv: Viele Pflegekräfte äußerten ihren Unmut darüber, in ihrem Umgang mit Schwerstkranken auf abrechenbare und standardisierte Leistungen beschränkt zu sein und sich weder richtig verabschieden noch den Angehörigen bei ihrer Trauerbewältigung helfen zu können. Eine befragte Pflegekraft fasste ihre persönliche Frustration nach dem kürzlichen Verlust einer Heimbewohnerin so zusammen: „Viel wichtiger als das Ausfüllen von zwanzig Seiten an zusätzlicher Dokumentation, die außer den Prüfern des MDK nie jemand lesen wird, wäre es mir gewesen, mich noch einmal mit Frau N. unterhalten und mit ihr die Fotoalben in ihrem Zimmer ansehen zu können.“ Diese Form der Pflegearbeit sei jedoch den ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern vorbehalten gewesen, für die professionelle Pflegekräfte mitunter bereits Neidgefühle entwickeln [vgl. Becke et al. 2011, S. 29]. Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass der schleichende Verlust an Interaktionsmomenten und Gesprächsmöglichkeiten – Kernbestandteile jeder pflegerischen Leistungserbringung – aufgrund der Reduzierung der Pflege auf abrechenbare Leistungen und des steigenden Zeitdrucks zu hoher Frustration und erheblichem Leidensdruck bei Pflegekräften führt.

Der Zeitdruck – der zweite der drei weiter oben benannten wesentlichen Belastungsfaktoren für die professionelle Pflege – lässt sich vor allem auf den Umstand zurückführen, dass ein stetig wachsender Anteil der Arbeitszeit von Pflegekräften entgegen jeglichem pflegerischen Selbstverständnis für pflegefremde Tätigkeiten verwandt werden muss. Untersuchungen zeigen, dass etwa 50% der Arbeitszeit in der stationären Altenpflege auf die Erbringung der Grundpflege, 15% bis 20% auf die Behandlungspflege und immerhin 30% bis 35% auf die Anfertigung der Pflegedokumentation, Dienstübergaben, Besprechungen sowie auf logistische Nebentätigkeiten (z.B. Transportdienste oder Bestellungen) entfallen [vgl. Becke et al. 2011, S. 15-16]. In der ambulanten Pflege verschiebt sich die Verteilung noch weiter zu Ungunsten der pflegerischen Tätigkeiten – hier entfallen bis zu 25% der Arbeitszeit zusätzlich auf die Fahrten zu den zu versorgenden Patientinnen und Patienten [vgl. Becke et al. 2011, S. 27]. Diese Richtwerte bestätigten sich auch im Rahmen der exemplarischen Analyse dreier Pflegeprozesse in vier stationären Pflegeeinrichtungen in Halberstadt, die ebenfalls im Rahmen unseres Projekts durchgeführt wurde: Während etwa der für die Dokumentation zu betreibende Aufwand bei der Grundpflege nur bei etwa 10% liegt, steigt er bei der Wundversorgung auf 20% und bei der Medikamentenausgabe auf 30% an. Wie während der Workshops mit Pflegekräften wiederholt durch diese betont wurde, nimmt die Frustration bei der Ausführung eines Pflegeprozesses mit dem zeitlichen Anteil der oft als „lästig“ und „überflüssig“ empfundenen Dokumentations- und logistischen Tätigkeiten bei vielen Pflegekräften zu.

Insbesondere die immer umfangreichere Pflegedokumentation sorgt für viele Überstunden bzw. die „Mitnahme“ von Arbeit ins private Umfeld und trägt damit zu einer ungesunden Entgrenzung zwischen Berufsleben und Freizeit von Pflegekräften bei – eine Entgrenzung, die sich in der Pflege jedoch schon immer feststellen ließ, obwohl sie in anderen Berufszweigen erst in den vergangenen Jahren – und in weit geringerem Ausmaß – Einzug gehalten hat. Die Ursachen hierfür sind nach [Nowak 2011, S. 4] in der historischen Entwicklung des Pflegeberufs aus der diakonischen Arbeit zu suchen: Für die Diakonissen war die Pflegetätigkeit am Mitmenschen Teil ihres religiösen Lebens, weshalb die Frage nach einer Abgrenzung von Arbeit und Freizeit kaum eine praktische Relevanz besaß. „Auf diese spezielle Form der Entgrenzung der Arbeit baute […] die gesellschaftliche Organisation von Pflegearbeit in Deutschland bis in die 1960er Jahre auf.“ [Nowak 2011, S. 4] Dies erschwert die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für viele Pflegekräfte erheblich und stellt eine zentrale Ursache für die mangelnde Attraktivität des Berufs sowie die hohe Ausstiegsneigung von Pflegekräften dar.

Die sich in dieser Entgrenzung ebenfalls ausdrückende prekäre Natur von pflegerischer Arbeit manifestiert sich auch in den Verdienstaussichten für Pflegekräfte: Obwohl sowohl Ausbildung als auch Beruf anspruchsvoll und belastend sind, liegt das Median-Bruttoentgelt für eine Vollzeitstelle in der Altenpflege in den neuen Bundesländern derzeit bei 1.945 Euro und damit immerhin 372 Euro unter dem Median über alle Ausbildungsbranchen [vgl. Bongai et al. 2014, S. 11]. In der Praxis können jedoch längst nicht alle Pflegekräfte überhaupt einen Verdienst in dieser Höhe realisieren, da sich die Teilzeitquote in der Pflege seit Jahren zwischen 50% und 60%, die Teilzeitquote bei pflegerischen Hilfskräften sogar zwischen 60% und 70% bewegt – während sie im Bundesdurchschnitt über alle Branchen bei lediglich 27,2% liegt [vgl. Bongai et al. 2014, S. 8]. Der Großteil dieser Beschäftigten begnügt sich keineswegs freiwillig mit einem Teilzeitvertrag: In einer 2009 durchgeführten Befragung unter Pflegekräften aus den neuen Bundesländern gaben ganze 65% der Teilzeitbeschäftigten an, eigentlich einer Vollzeitarbeit nachgehen zu wollen [vgl. Nowak 2011, S. 7]. Für viele dieser Teilzeitbeschäftigten ist die Arbeit in der Pflege perspektivisch nicht existenzsichernd, zu großen Teilen handelt es sich hier um familiäre Zuverdiener (fast immer Frauen), teilweise auch um Aufstocker.

Doch nicht nur der Anteil der Teilzeitbeschäftigten, auch der Anteil der Befristungen ist hoch: Laut dem WSI-Lohnspiegel sind etwa 25% der Fachkräfte und 33% der Hilfskräfte in der Altenpflege lediglich befristet beschäftigt [vgl. Auth 2013, S. 417]. Nur 23% der in der Altenpflege tätigen Träger fallen in den Geltungsbereich eines Tarifvertrags [vgl. Buchinger 2012, S. 52] – und auch die Möglichkeiten der innerbetrieblichen Mitbestimmung sind in den meisten Pflegeeinrichtungen im Vergleich zu anderen Branchen unterentwickelt. Befristete, niedrig entlohnte Teilzeitverträge ohne Tarifbindung, mit wenig Mitbestimmungsrechten und ohne eine realistische Aussicht auf zeitnahe Verbesserungen – dies sind die Rahmenbedingungen, die wesentlich zum geringen Interesse junger Menschen an der Aufnahme entsprechender Berufsausbildungen beitragen und die als Faktoren im Rahmen des sozialwissenschaftlichen Modells beruflicher Gratifikationskrisen darüber hinaus einen wesentlichen Anteil an der Gesundheitsbelastung vieler Pflegekräfte haben [vgl. Faller und Reinboth 2011, S. 241].

Gibt es schon heute einen Fachkräftemangel in der Pflege?

Aus der Kombination von demografiebedingt stetig steigenden Fallzahlen in der Pflege, einer sich zeitgleich verringernden Anzahl an Erwerbsfähigen und damit potentiellen Pflegekräften sowie der aus verschiedenen Gründen geringen Arbeitsattraktivität erwächst ein Rekrutierungsproblem, das durch die zunehmende Überalterung der verfügbaren Fachkräfte (2012 waren bereits 24,2% aller Pflegefachkräfte älter als 50 Jahre, vgl. hierzu etwa Simon 2012) noch verschärft wird. Inwiefern bereits heute von einem Fachkräftemangel im Sinne der arbeitswissenschaftlichen Definition gesprochen werden kann, ist unter Experten umstritten, da viele Erhebungen im Pflegebereich methodische Unschärfen (wie etwa die Bedarfsmischung von Pflegearbeitsplätzen mit anderen Arbeitsplätzen in Pflegeeinrichtungen) aufweisen. Darüber hinaus sind erhebliche regionale Unterschiede im Fachkräftebedarf sowie bei der Fachkräfteverfügbarkeit zu verzeichnen.

Die von der Bundesagentur für Arbeit festgelegten Kriterien für einen Fachkräftemangel werden in der Altenpflege jedenfalls seit einigen Jahren erfüllt. Nach diesen ist von einem Fachkräftemangel zu sprechen, wenn angebotene Stellen mindestens 40% an Tagen über die Durchschnittswartezeit hinaus nicht besetzt werden können und/oder es weniger als 150 Arbeitssuchende je 100 gemeldete Stellen gibt [vgl. Kluge 2012, S. 17]. In der Altenpflege kommen im Bundesschnitt auf 100 als offen gemeldete Stellen derzeit nur 37 arbeitssuchende Fachkräfte [vgl. BMWi 2014, S. 10], offene Stellen können im Durchschnitt erst nach etwa 110 Tagen besetzt werden, während die durchschnittliche Vakanzzeit über alle Berufsgruppen bei etwa 80 Tagen liegt [vgl. Isfort 2013, S. 26-27]. In den neuen Bundesländern liegt die Vakanzzeit in der Altenpflege sogar bereits bei 124 Tagen [vgl. Bednarczyk 2013, S. 1]. Die Mehrzahl der Studien geht daher von einem bereits existierenden Fachkräftemangel in der Pflege von rund 30.000 Pflegekräften aus [vgl. Haubner und Nöst 2012, S. 6], wobei die neuen Länder aufgrund der starken Tendenz zur Abwanderung von Fachkräften aller Branchen besonders betroffen sind [vgl. Buchinger 2012, S. 51].

Die sich deshalb bereits heute in vielen Regionen abzeichnenden Probleme werden sich in den kommenden Jahrzehnten noch erheblich weiterverschärfen und gefährden die Tragfähigkeit des gesamten Pflege- und Versorgungssystems: Bis zum Jahr 2020 fehlen einigen Prognosen zufolge 220.000 [vgl. Haubner und Nöst 2012, S. 6], bis 2050 sogar 340.0000 zusätzliche Pflegefachkräfte [vgl. Becke et al. 2011, S. 18], wobei sich die Angaben stets auf Vollzeit-Stellen beziehen. Da der Großteil der Beschäftigten in der Pflege jedoch in Teilzeit arbeitet (siehe vorheriger Abschnitt), ist der sich aus diesen Prognosen ergebende tatsächliche Personalmangel noch deutlich größer. Insgesamt müssten bis 2050 auch unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschritts etwa 3,76 Millionen Menschen in der Pflege beschäftigt sein – aktuell sind es noch rund 970.000 [vgl. Haubner und Nöst 2012, S. 6].

Ein Teilaspekt des Fachkräftemangels, der in dieser Betrachtung nicht außer Acht gelassen werden soll, ist die hohe Neigung der Beschäftigten, ihren Beruf aus gesundheitlichen oder anderen Gründen vorzeitig aufzugeben. Sowohl der Krankenstand [vgl. Faller und Reinboth 2011, S. 42] als auch der Anteil der Frühverrentungen (mehr als 30% der sich in Rente befindlichen Pflegekräfte wurde aus gesundheitlichen Gründen frühverrentet) liegen in der Pflege deutlich über dem Durchschnitt [vgl. Knüppel 2012, S. 16]. Mehreren voneinander unabhängigen Erhebungen zufolge weisen zwischen 30% und 40% der Beschäftigten in der Pflege Burnout-Symptome auf [vgl. Auth 2013, S. 419], die insbesondere auf einen überdurchschnittlichen Präsentismus zurückzuführen sind: Aufgrund der dünnen Personaldecke verweigern Pflegekräfte häufig die Krankschreibung – so treten etwa während der Grippesaison bis zu 70% der erkrankten Pflegekräfte regelmäßig und bei vollem Bewusstsein dafür, damit nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Kolleginnen und Kollegen sowie den ihnen anvertrauten Gepflegten zu schaden, ihren Dienst an, da sich der Ausfall mehrerer Fachkräfte im Dienstplan in vielen Einrichtungen nicht kompensieren ließe [vgl. Knüppel 2012, S. 28-29]. Es liegt nahe, dass ein derartiger Raubbau an der eigenen Gesundheit nicht nur mit einer hohen Frühverrentungsrate, sondern auch mit einer hohen Ausstiegsneigung korreliert: 15% der Pflegekräfte denken mehrmals in der Woche über einen Berufsausstieg nach [vgl. Auth 2013, S. 419].

Was könnte man tun, um diese Situation zu verbessern?

Zusammenfassend ist festzustellen, dass der doppelte demografische Druck – steigende Fallzahlen bei sich ausdünnender Personaldecke – der auf der Pflege lastet, in den kommenden Jahrzehnten nur dadurch abgemildert werden kann, dass die Arbeitsbedingungen in der Pflege gundlegend verbessert und insbesondere Frustration und Unzufriedenheit durch zu geringe Entlohnung, Zielkonflikte, Zeitdruck sowie pflegefremde Tätigkeiten verringert werden. Darüber hinaus gilt es, das Berufsbild der Pflege wieder attraktiver werden zu lassen, die Gesunderhaltung von Pflegefachkräften zu fördern und ausländische Fachkräfte besser zu integrieren.

Bereits in der Pflege beschäftigte Personen müssen über ihre volle Berufsbiografie gesund, leistungsfähig, motiviert und psychisch belastbar bleiben [vgl. Faller und Reinboth, 2011, S. 239]. Dies dürfte vor allem dadurch zu erreichen sein, dass sie von frustrierenden und pflegefremden Tätigkeiten (Dokumentation, Logistik) soweit wie möglich entlastet werden, um den körperlichen und geistigen Folgen der dauerhaften Überlastung entgegenzuwirken (Burnout- Problematik, Tendenz zum frühzeitigen Berufsausstieg, steigende Krankenstände) sowie um die Pflegekräfte durch eine stärkere Fokussierung auf die eigentlichen Kernaufgaben der Pflege (mehr Zeit für den Menschen) wieder für ihre Arbeit zu begeistern. Um den Fachkräftebedarf zu sichern, werden zudem verstärkt ausländische Fachkräfte eingeworben oder in Deutschland ausgebildet werden müssen [vgl. BMWi 2014, S. 6]. Der entscheidende Faktor für deren erfolgreiche Integration sowie für ein für alle Beteiligten (Stammpersonal, neue Pflegekräfte, Pflegebedürftige und Angehörige) zufriedenstellendes Arbeitserleben ist dabei die Sprachbeherrschung der neuen Mitarbeiter [vgl. Lamura et al. 2014, S. 14]. Nicht zu empfehlen sind dagegen die Erhöhung des Anteils von Leiharbeitern in der Pflege [vgl. Nowak 2011, S. 11 / Bräutigam et al. 2010, S. 10-11] sowie die weitere Aufweichung des Fachlichkeitsbegriffs zur Ermöglichung des vermehrten Einsatzes von geringqualifizierten Hilfskräften in Pflegesituationen [vgl. Buchinger 2010, S. 52].

Auf die im Rahmen des SEVIP&V-Projekts erarbeiteten Lösungsansätze kann und will ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen, da einige der Ideen Gegenstand von Förderanträgen sind, die sich aktuell noch in der Prüfphase befinden. Da die auf der Hand liegende Lösung, Pflegekräfte schlicht und ergreifend besser zu bezahlen, und dadurch die dargestellten Image-, Überlastungs- und Nachwuchsprobleme unmittelbar abzumildern, ist letztendlich politischer Natur und damit zumindest für die technische Forschung nicht greifbar. Was dagegen greifbar ist, sind Konzepte assistiver Softwaresysteme bzw. assistiver Robotik, mit denen wir uns deshalb auch intensiv befasst haben. Zwei zentrale Fragen, die sich hinsichtlich des Einsatzes solcher Systeme in Pflegesettings stellen, werde ich in den nächsten beiden Blogposts zum Thema aufgreifen:

Welche rechtlichen Rahmenbedingungen sind zu berücksichtigen, wenn assistive Systeme in der Pflege zum Einsatz kommen sollen? Und haben Pflegekräfte – insbesondere vor dem Hintergrund der Schreckensvision einer hochtechnischen und entmenschlichten Pflege – überhaupt ein Interesse an der Nutzung derartiger Systeme?

Fragen und thematische Anregungen sind mir dabei – wie immer – hoch willkommen.

Verwendete Quellen

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Zitationscode für ResearchBlogging

Faller G, & Reinboth C (2011). [Necessities and needs of intervention for workplace health promotion in residential elderly care?]. Pflege, 24 (4), 239-50 PMID: 21789764

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